Zwischen Judentum und Hellenismus

Das Christentum des Paulus als Ausdruck des Zeitgeists des 1. Jahrhunderts.

 

Einleitung

 

Wie Frösche um einen Teich“ sah Platon (circa 428 – 348 vor Christus) die Griechen um das Mittelmeer sitzen. Athen war kulturelles Zentrum im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus und Ausgangspunkt der klassischen Philosophie dank Institutionen wie der Akadḗmeia. Platon und Aristoteles (384 – 322 vor Christus) waren die bekanntesten Gelehrten ihrer Zeit. Ihre Schriften gelten bis heute als gedanklicher Unterbau des Abendlandes. Die Frage, wie ein geglücktes Leben gelingen könne, stand im Mittelpunkt ihrer ethischen Überlegungen.

Der Klassik folgte die Zeit des Hellenismus mit makedonischer Vorherrschaft im östlichen Mittelmeerraum als politischem Rahmen. Neue philosophische Strömungen und Schulen entwickelten sich in den Wirren des 4. und 3. Jahrhunderts vor Christus. Epikur (circa 341 – 70 vor Christus) und die Stoiker begannen sich stärker mit einer Ethik des Individuums auseinanderzusetzen als ihre Vorgänger, denen das Wohl der Gemeinschaft in Form der Polis als Staatsform am Herzen lag.[1] Weiterhin blieb die Frage nach einem geglückten Leben zentral.

 

Unter Alexander III. von Makedonien (356 – 323 vor Christus) verbreitete sich der Hellenismus als Leitkultur. Spätestens nach der Schlacht von Pydna, 168 vor Christus, hatte das Imperium Romanum rund um den ,großen Teich‘, das Mittelmeer, den Platz als politischer Hegemon eingenommen. Kulturell aber war das sich schnell entwickelnde römische Staatsgebilde in weiten Teilen vom Hellenismus der östlichen Mittelmeerwelt geprägt. Die Stoa etablierte sich als die einflussreichste philosophische Schule. Auf die Eliten des Imperium Romanum, politische und militärische Akteure, hatte die Stoa großen Einfluss. Die Stoa überdauerte auch die Wirren des Endes der Römischen Republik und blieb in der Kaiserzeit erhalten.

 

Ein Teil des Römischen Reiches war seit 63 vor Christus das Königreich Judäa. Den Römern gewogene Klientelkönige wie Herodes (72 – 4 vor Christus) regierten Jerusalem und das Umland bis kurz nach der Zeitenwende und sorgten für relative Ruhe und Ordnung, bevor es zu einer direkten Einsetzung römischer Statthalter kam. Der Hellenismus als Leitkultur der Eliten hatte auch in Judäa Einzug gehalten. Die Juden hatten bis kurz nach der Zeitenwende innerhalb des Imperium Romanum Sonderrechte wie das Recht auf Versammlung, Einhebung der Tempelsteuer, Sabbatruhe, Befreiung vom Opferdienst und vom Kaiserkult.[2]

Das religiöse und politische Judentum war in verschiedene Bewegungen gespalten. Gruppen wie die Zeloten lehnten sich gegen die römische Obrigkeit und die hellenisierte jüdische Aristokratie auf. Andere hingegen waren dem neuen Lebensstil, den die Römer nach Judäa brachten, nicht abgeneigt. Eine dieser vielen, alles andere als einheitlich auftretenden Bewegungen innerhalb des Judentums verkörperte eine kleine Gruppe, die sich um einen jüdischen Wanderprediger aus Galiläa scharte. Ihre Lehre beschäftigte sich in jüdischer Tradition mit demselben Thema, mit dem sich die hellenistische Philosophie beschäftigte: der Frage nach einem gelungenen Leben.

 

Paulus kannte sowohl die Welt des Judentums wie auch die des Hellenismus. Bis heute gilt er als einer der Urväter des Christentums, das inmitten des hellenistischen Polytheismus, des Kaiserkults und des Judentums seine Geburtsstunde feierte. Paulus´ missionarisches Denken und Arbeiten ermöglichte eine rasche Verbreitung der neuen Lehre. Seine Briefe sind das wichtigste Zeugnis des Urchristentums. Vieles davon, was als Christentum die letzten zwei Jahrtausende maßgeblich beeinflusste, nahm in der Zeit nach der Hinrichtung Jesus´ von Nazareth seinen Ursprung. Was aber an den Gedanken des Apostels war wirklich revolutionär? Wodurch wurde er beeinflusst?

 

Die Stoa hatte zu Paulus’ Lebzeiten bereits um die 400 Jahre lang Einfluss auf die Gesellschaft gehabt und war vor allem in gehobenen Schichten zum Allgemeingut geworden. Die Schriften einflussreicher Stoiker waren weit verbreitet.

In meiner Arbeit möchte ich die Entstehung des frühen Christentums in den Zeitgeist des 1. Jahrhunderts zwischen Judentum und hellenistischer Welt einbetten. Dabei ergeben sich folgende Forschungsfragen:

 

  • Welchen Einfluss hatte die Stoa auf das paulinische Denken?
  • Wie verhielten sich die Gedanken des Paulus zu anderen Denkrichtungen und philosophischen Strömungen, die in der Welt des hellenisierten, östlichen Mittelmeerraums vorherrschten?
  • Welche Themen lassen sich sowohl in der stoischen Philosophie wie auch im Christentum finden? Welche konkreten Handlungsaufforderungen finden wir in beiden Geistesströmungen?

Um diese Fragen zu beantworten, betrachte ich einerseits die Paulusbriefe und andererseits Schriften einflussreicher Stoiker , um Parallelen, Überschneidungen oder auch Widersprüche aufzuzeigen. Die originär von Paulus stammenden Briefe sind 1Thessalonicher (1Thess), 1Korinther (1Kor), die Sammlung der Briefe im 2Korintherbrief (2Kor), Galater (Gal), Philipper (Phil), Philemon (Phlm) und Römer (Röm).[3] In meiner Arbeit beschränke ich mich auf diese Quellen und lasse die Apostelgeschichte und die Deuteropaulinen (Anm.: die ihm zugeschriebenen Werke) beiseite. Ich fokussiere die Gedanken des Paulus, nicht aber auf die ihm nachträglich zugeschriebenen.

Bei der Stoa konzentriere ich mich auf die bekanntesten Schriftsteller, die mutmaßlich den Zeitgeist beeinflussten. Neben Seneca (ca. 4 vor Christus – 65 nach Christus), einem Zeitgenossen Paulus’, sind dies Cicero (106 – 43 vor Christus), Panaitios und Epiktet (ca. 50/60 – ca. 135). Letzterer war zwar kein Zeitgenosse des Apostels, seine Schriften bieten aber interessante Einblicke in die Philosophie dieser Epoche.

Zur Erläuterung dieser Texte ziehe ich Sekundärliteratur heran und erläutere so biographische Details zum Leben des Paulus und Fakten rund um die Stoa.

 

Der Forschungsstand sowohl zur Stoa wie auch zu Paulus ist erwartungsgemäß bereits sehr fortgeschritten. Sowohl aus historischer wie auch aus theologischer Sicht wurde die Figur des Paulus intensiv beleuchtet. Es gibt Arbeiten die sich mit dem hellenistischen Gehalt der paulinischen Gedankenwelt beschäftigen beziehungsweise mit dem Einfluss des platonischen Gedankenguts auf spätere Gelehrte wie Augustinus. Ich denke, dass es durchaus interessant ist, den Blick auszuweiten.

Eine kurze Biographie des Apostels Paulus

 

Um Paulus’ Schriften einordnen zu können, soll seine Person näher betrachtet werden. Herkunft, Aussehen, Charakter, Lebensweg und Erziehung prägten ihn, wie jeden Menschen, nachhaltig.

Zu seinen frühen Lebensjahren ist kaum verlässliches Quellenmaterial vorhanden. Die Aussagen seines Biographen Lukas und seine eigenen Angaben driften in weiten Teilen auseinander. Viel muss spekuliert werden und kann nicht mit bestimmter Sicherheit festgestellt werden. Trotzdem lassen sich aus den verschiedenen Quellen Rückschlüsse auf seine Biographie ziehen.

Paulus wurde in der Stadt Tarsos in Kleinasien geboren. Anhand seiner Briefe und der Form, in der sie verfasst wurden, kann mit großer Sicherheit angenommen werden, dass er hellenistisch gebildet war. Wann genau er nach Jerusalem kam, ist nicht bekannt. Er erhielt vermutlich seine Toraausbildung bei den Pharisäern.[4]

Ob Paulus römischer Bürger war oder nicht, lässt sich ebenfalls nicht eindeutig beantworten. Es ist gut möglich, dass sein Biograph Lukas das Faktum der Civitas Romana nachträglich erfand, um die Vereinbarkeit von Christentum und römischem Bürgertum zu unterstreichen. Auch wann er seinen Beruf als Zeltmacher erlernte, ob in seiner Jugend oder erst unter Druck und Not auf seinen Missionsreisen, ist unklar. Somit kann über seinen sozialen Status wenig ausgesagt werden.[5] Als am wahrscheinlichsten gilt laut Udo Schnelle, dass Paulus ein Nachkomme eines freigelassenen römischen Sklaven war und so das römische Bürgerrecht von Geburt an besaß.[6]

Über das Aussehen des Paulus gibt es keine übereinstimmenden Berichte, allerdings wird er durchwegs als wenig attraktiv beschrieben. Er litt wahrscheinlich unter Migräne, die er im Korintherbrief als „Pfahl im Fleisch“ und „Engel des Satans, der ihn mit Fäusten schlägt“ beschrieb. Das könnte mit ein Grund für seine Ablehnung von Körperlichkeit sein, die sich in seinen Briefen wiederfindet.[7] Trotz dieser Makel besaß er wohl ein besonderes Charisma, ohne das er wohl nicht zum wichtigen Akteur innerhalb des frühen Christentums aufsteigen hätte können.

Spätestens ab Mitte der 30er Jahre fungierte Paulus als williger Verfolger der christlichen Gemeinden. Laut Lukas war Paulus bei der Steinigung des Stephanus anwesend. Später war er an der Verfolgung der christlichen Urgemeinde beteiligt. Die Apostelgeschichte berichtet darüber: „Saulus aber versuchte die Kirche zu vernichten; er drang in die Häuser ein, schleppte Männer und Frauen fort und lieferte sie ins Gefängnis ein.“[8] In den Jahren 34/35 nach Christus. war Paulus an den Verfolgungen der christlichen Gemeinde in Damaskus beteiligt.[9] Ein Grund für die Verfolgung der christlichen Gemeinde durch die jüdische Hohepriesterschaft war wohl die die Verehrung eines am Kreuz gestorbenen Mannes als Messias. Das erschütterte den frommen Juden Paulus´ wohl zutiefst, galt die Kreuzigung doch als die schlimmste unter allen Strafen. Dass der Messias durch die Hinrichtungsmethode der Kreuzigung zu Tode kommen sollte, war für Juden dieser Zeit undenkbar.[10] Dass Paulus laut der Apostelgeschichte aktiv bei den Hoherichtern um die Verfolgung und Zerschlagung der urchristlichen Gemeinde gebeten hatte, lässt erahnen, dass er wohl ebenso eifrig wie ehrgeizig war. Diesen Eifer beschrieb er auch selbst im Galaterbrief.[11]

Nach diesen Aktionen gegen die christlichen Gemeinden im Auftrag der Hohepriester kam es zur großen Zäsur im Leben Paulus´. Die als ,Damaskuserlebnis‘ bekannte Offenbarung, in der ihn Jesus Christus dazu anhielt, von der Verfolgung der Christen abzulassen und die neue Lehre zu verbreiten, veränderte laut dem bekannten christlichen Narrativ seinen weiteren Werdegang.

Im Jahr 36 oder 37 n. Chr. war Paulus zum ersten Mal mit der christlichen Urgemeinde Jerusalems in Kontakt und traf auf Jakobus und Petrus. Der Aufenthalt dauerte nur 15 Tage. Anschließend begab er sich nach Kleinasien, vermutlich zuerst in seine Heimatstadt Tarsos und anschließend nach Antiochia.[12]

Paulus´ Missionsreise nach Antiochia war ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte der frühen Christenheit. Antiochia war die drittgrößte Stadt des Imperium Romanum. Die hellenistischen Mysterienkulte hatten dort großen Einfluss auf die Entwicklung des Christentums. In Antiochia verbanden sich Hellenismus und Judentum. Flüchtlinge aus Jerusalem und hellenistische Judenchristen aus Zypern und Kyrene verkündeten den neuen Glauben auch an Nichtjuden. Paulus kam in Antiochia mit den hellenistisch orientierten Diasporajuden aus Jerusalem in Kontakt. Hier nannte man laut den Angaben in der Apostelgeschichte die Mitglieder der Gemeinde, die sich auf Jesus Christus berief, bereits Christen.[13] Auch bei einer späteren Rede unterschied Paulus zwischen Israeliten und Gottesfürchtigen, adressierte seine Rede aber bereits an beide.[14] Die heidenchristlichen Anhänger des neuen Glaubens bildeten somit neben Heiden und Juden eine separate Religionsgemeinschaft, auch in den Augen der römischen Besatzer. Der Einfluss des alten Judentums auf die christliche Gemeinde war in Antiochia weniger stark als in Jerusalem. Paulus wurde sozusagen über die Gemeinde Antiochias in den christlichen Glauben eingeführt. Viele seiner späteren Ansichten gehen auf diese Zeit zurück. Es ist allerdings nicht zu klären, in welchem Ausmaß er bereits bestehende Gedanken übernommen hatte.[15]

 

Paulus war auf seinen Reisen und bei seinen sonstigen Tätigkeit kein Einzelgänger. Es waren nachweislich um die 50 Personen, die ihn begleiteten oder als Helfer unterstützten. Auf seinen Reisen versuchte er so gut als möglich unabhängig von finanzieller Unterstützung zu sein und sich seinen Lebensunterhalt durch seinen Brotberuf als Zeltmacher zu verdienen.[16] Diese spartanische Lebensweise legt eine Nähe zur stoischen Position der Bedürfnislosigkeit nahe.

Paulus benutzte für seine Missionsreisen die Handelswege seiner Zeit. Das erklärt, warum sich vor allem in Hafenstädten christliche Gemeinden bildeten. Diese Gemeinden waren durch rege Korrespondenz miteinander verbunden.[17] Form und Ausdrucksweise seiner Briefe lassen auf eine solide hellenistische Ausbildung schließen.[18]

 

Am Apostelkonvent des Jahres 49 in Jerusalem kam es zum Bruch mit der Urgemeinde unter Jakobus und Petrus. Paulus und Barnabas, der ihn in die antiochische Gemeinschaft eingeführt hatte, waren die Verhandlungsführer der Heidenchristen der Gemeinde Antiochias. Jakobus sah das die Bewegung die sich auf Christus berief noch immer in jüdischer Tradition – nicht als eigene Religion. Toraobservanz war für ihn als Pharisäer daher unumgänglich. Während die Judenchristen um Jakobus und Petrus auf Einhaltung der Beschneidung und Speisevorschriften bestanden, wollte Paulus, um seine Missionstätigkeit weiter voranzutreiben und die potentielle Ausbreitung der Lehre zu erhöhen, allein die Taufe im Namen Jesu Christi als Aufnahmekriterium gelten lassen. Am Ende des Apostelkonvents stand der Beschluss, künftig beide Arten der Verkündung der Botschaft Gottes als zulässig zu erachten. Damit konnte Paulus seine Missionsarbeit fortsetzen und den christlichen Glauben als selbstständig betrachten.[19] Diese Standhaftigkeit gegenüber den Aposteln Jakobus und Petrus, die Jesus persönlich kannten und in einem engeren Verhältnis zu ihm standen, lassen auf einen starken Charakter schließen.

 

Nach dem Apostelkonvent wandte sich Paulus den anderen großen Kulturzentren neben Antiochia im Osten des Imperium Romanum zu. Die zweite Missionsreise führte ihn nach Syrien, in seine Heimatregion Kilikien, nach Makedonien und Achaia. Von 50 – 52 n. Chr. war er in Korinth. Seine dritte und letzte Missionsreise führte ihn nach Ephesus, Makedonien, Achaia, Kleinasien und Caesarea.[20] Auch bezüglich der Details zu diesen Missionsreisen ergeben sich Unklarheiten, etwa wenn man seine eigenen Berichte mit der Apostelgeschichte des Lukas vergleicht. Der Grund dafür ist wohl, dass sich Paulus selbst nicht unbedingt mit der Jerusalemer Urchristengemeinde in Verbindung bringen wollte, während sein Biograph Lukas ihn in der Apostelgeschichte wohl stärker in diesen Kontext einzubetten versuchte. Der Bruch mit der Urgemeinde und der traditionell jüdischen Ausrichtung des Christentums war aber zu dieser Zeit wohl bereits endgültig erfolgt. Der Streit zwischen der Jerusalemer Urgemeinde und Paulus nahm auch nach dem Apostelkonvent kein Ende. Während eines Aufenthalts in Jerusalem zur Übergabe einer Kollekte um circa 58 n. Chr. wurde Paulus unter dem Vorwand verhaftet, er hätte einen Nichtjuden mit in den Tempel genommen. Er wurde in römischen Gewahrsam genommen und gelangte so als Gefangener nach Rom. Dort wurde er nicht in einem Gefängnis, sondern in einer Wohnung festgehalten. Er konnte weiterhin das Evangelium verkünden.[21] Um circa 62 n. Chr. wurde er unter Kaiser Nero (37 – 68) im Rahmen der Christenverfolgungen hingerichtet.[22]

Das Judentum und der römische Osten im 1. Jahrhundert

 

Paulus war ein Kind seiner Zeit. Wie aber sahen das Judentum und die ihn umgebende Kultur des Hellenismus aus? Welchen Strömungen und Einflüssen war Paulus in seiner Jugend und auf seinen Reisen ausgesetzt?

Für gläubige Juden war die sie umgebende hellenistische Welt des östlichen Mittelmeerraums aus jüdischer, monotheistscher Sicht heidnisch. Der größte Teil der Bevölkerung glaubte im 1. Jahrhundert an die homerisch geprägte Götterwelt. Vielfach hatten Städte ihre eigenen Stadtgötter und Mysterienkulte. Diese Kulte waren in Form und Ausrichtung mit Mysterienspielen, Festen und Prozessionen aller Art sehr vielfältig.[23] Hinzu kam der Kaiserkult, der im Imperium Romanum einen wichtigen Aspekt des öffentlichen Lebens darstellte. Seit Augustus (63 vor Christus – 14 nach Christus) gab es zum Beispiel in Pergamon den Kult der Dea Roma, eine vergöttlichte Form des römischen Staates. Statuen und Tempel des Kaisers waren Teil des Alltags in den Städten.[24] Ebenso wie gläubige Juden, wenn auch aus anderen Gründen, waren viele Anhänger der Stoa nicht mit den heidnisch geprägten Spielen und Festen einverstanden.[25] Stoiker vertraten den Glauben an einen Gott, der in vielerlei Gestalt auftrat.[26] Zudem widersprachen die Spiele ihrer Meinung nach der Leidenschaftslosigkeit, mit der das Leben zu führen sei.[27]

 

Tarsos, die Geburtsstadt Paulus´, war eine wohlhabende Stadt, die kulturell und philosophisch gut in das Imperium Romanum eingebunden war. Sie galt als ein Zentrum hellenistischer Philosophie, insbesondere der Stoa.[28] Es liegt nahe, dass Paulus schon früh mit verschiedenen geistigen Strömungen in Berührung kam.

Vier Faktoren begünstigten nach Udo Schnelle Paulus’ Missionsarbeit innerhalb der Welt des Imperium Romanum:

  • Griechisch, das Paulus ausgezeichnet beherrschte, war nicht nur im östlichen Mittelmeerraum Lingua Franca, auch die römische Oberschicht beherrschte Griechisch.
  • Die Infrastruktur des Imperium Romanum ermöglichte relativ schnelles Reisen.
  • Durch ihre religiöse Toleranz ermöglichten die Machthaber die Verbreitung des Evangeliums.
  • In nahezu allen größeren Städten gab es jüdische Gemeinden, die als Anknüpfungspunkt für den Diasporajuden Paulus dienen konnten.[29]

 

Juden hatten innerhalb des Imperium Romanum Sonderrechte wie das Recht auf Versammlung, Einhebung der Tempelsteuer, Sabbatruhe, Befreiung von Opferdienst und Kaiserkult.[30] Den sie umgebenden Zeitgenossen präsentierte sich das Judentum vor allem durch den ungewöhnlichen Monotheismus als fremdartig. Auch die strengen Speise- und Reinheitsgesetze waren für nichtjüdische Zeitgenossen ein Grund für Argwohn. Aufgrund dieser strengen und alle Lebensaspekte umfassenden Regeln war streng gläubigen Juden soziale Integration in die sie umgebende Welt beinahe unmöglich.[31]Profana illic omnia quae apud nos sacra, rursum concessa apud illos quae nobis incesta. (Anm.: „Unheilig dort alles was bei uns heilig, hingegen erlaubt bei jenen was bei uns Unzucht.“) Dieser Satz des römischen Historikers Tacitus (58 – 120) fasst die Vorurteile gegenüber dem Judentum treffend zusammen.[32]

Das Judentum war trotz der Tora alles andere als homogen. Der jüdisch-römische Historiograph Flavius Josephus (circa 37 – 100) beschrieb in seinem Werk Der Jüdische Krieg die Gruppen der Pharisäer, Sadduzäer und Essener. Während die Sadduzäer sehr elitär waren, hatten die Essener ein eigenes, besonders strenges Verständnis der jüdischen Gesetze. Die Pharisäer, denen sowohl Flavius Josephus wie auch Paulus anhingen, widmeten sich laut Flavius Josephus vor allem der Auslegung der Toragesetze. Sie glaubten an eine deterministische Schicksalslehre, gestanden jedem einzelnen aber eine gewisse Entscheidungsfreiheit zu. Zudem glaubten sie an eine Verdammnis im Leben nach dem Tod bei Verstößen gegen die jüdischen Gesetze.[33]

Nach dem Tod Herodes´ veränderte sich Judäa dramatisch. Der Jüdische Krieg, den Flavius Josephus ausführlich in seinem Werk behandelte, setzte zwar erst nach dem Ableben des Apostels Paulus ein, die Spannungen in Judäa waren aber bereits in den Jahrzehnten zuvor vorhanden. Die Verwaltung oblag zwar der jüdischen Aristokratie, der Kaiserkult und der Einfluss des Imperium Romanum allerdings waren vielen Juden ein Dorn im Auge. Seit dem Jahr 6 mussten Abgaben an den Kaiser geleistet werden.[34] Im Jahr 40 sollte eine Kaiserstatue Caligulas (12 – 41) im Tempel in Jerusalem aufgestellt werden, was von Juden als die ultimative Demütigung empfunden wurde und offenen Widerstand provozierte.[35] In diesen Umbruchszeiten wurde der Ruf nach Erlösung durch den Messias immer lauter. Widerstandsgruppen wie die Zeloten bildeten sich. Geistige Strömungen, die Erneuerung verhießen, fanden einen guten Nährboden vor.

Geschichte und Prinzipien der Stoa

 

Um einen Vergleich zwischen Paulus und der Stoa zu ermöglichen, ist es notwendig, die Geschichte und Grundsätze dieser philosophischen Schule im Überblick zu beleuchten.

Die Stoa entstand zum Ende des 4. Jahrhunderts vor Christus. Philipp von Makedonien (386 – 336 vor Christus) und anschließend sein Sohn Alexander hatten der Blütezeit der griechischen Polis ein Ende gesetzt. Die Gesellschaft, die Sokrates, Platon und Aristoteles zu ihrer auf die Gemeinschaft ausgerichtete Philosophie angeregt hatte, war in ihrer Struktur verschwunden. Wie andere Schulen stand auch sie in sokratischer Tradition. Kyniker, Skeptiker, Epikureer und Stoiker begründeten neue Schulen, die sich vorwiegend mit dem ethisch korrekten Verhalten des Einzelnen beschäftigten. Vor allem der Epikureismus und der Stoizismus sollten das Imperium Romanum bis in die römische Kaiserzeit prägen. Die übersichtliche Welt der Polis war Geschichte, der politische Horizont war erweitert. Das verlangte auch ein Umdenken in der Philosophie. Die Stoa wurde zu einer kosmopolitischen Philosophie, die diese neuen Grenzen berücksichtigte.[36] An die Stelle einer Philosophie innerhalb einer kleinräumigen Gemeinschaft trat eine Ethik, die den Einzelnen in ein großes Ganzes einbettete und universelle Gültigkeit suchte.

 

Die Lehre des Stoizismus kann in drei thematische Bereiche unterteilt werden: Logik, Naturphilosophie und Ethik.[37]Das Bild, das wir heute von der Gründungsphase, der Alten Stoa (circa 300 – 150 vor Christus) haben, beruht auf den Darstellungen des Diogenes Laertius. Er verfasste mutmaßlich im 3. Jahrhundert nach Christus sein zehnbändiges Werk rund um das Leben und Lehren antiker Philosophen. Zenon, der Begründer der Stoa, soll sehr bescheiden gelebt haben. Der Grundgedanke der Stoa bestand darin, durch Vermeidung jeglicher Affekte (Apathia) Freiheit von Leidenschaften und dadurch innere Seelenruhe (Ataraxia) zu erlangen.[38] Für Zenon war die Natur vom vernünftigen Logos durchdrungen. Als Teil dieser Natur musste der Mensch ebenfalls nach vernünftigen Prinzipien leben. Mensch und Kosmos sah Zenon als Einheit.[39]

Die Mittlere Stoa prägte mit ihren beiden Hauptvertretern Panaitios von Rhodos (circa 180 – 100 vor Christus) und Poseidonios (circa 135 – 50 vor Christus) das philosophische Leben Roms nachhaltig. Ihr bekanntester Vertreter Panaitios war ein Vertrauter des mächtigen Publius Cornelius Scipio (235 – 183 vor Christus.), der zu den bekanntesten und einflussreichsten Männern der Römischen Republik zählte. Panaitios´ Ansichten zu Reichtum und körperlicher Gesundheit waren sanfter als die der Alten Stoa; letztere war sehr kritisch gegenüber allem außerhalb des eigenen Ich. Panaitios pochte nicht mehr auf die Apathia, die gänzliche Ausschaltung von Affekten. Ihm zufolge sollte der Mensch diese Affekte lediglich in Zaum halten, nicht aber vollkommen affektlos leben. Diese Auslegung brachte ihm viel Zuspruch in den elitären Zirkeln der Republik ein. Panaitios erkannte vier Elemente, die ein glückliches, tugendhaftes Leben ermöglichten: Erkenntnis, Gemeinschaft, Leistung und innere Harmonie. Diese vier Kräfte ermöglichten es dem Menschen, die vier für ein erfülltes Leben erforderlichen Grundtugenden zu erlangen: Erkenntnis (Sophia), die Fähigkeit, Widerstände im Leben zu überwinden (Andreia), Besonnenheit (Sophrosyne) und Gerechtigkeit (Dikaiosyne). Panaitios betrachtete den Menschen auch nicht als gänzlich dem Schicksal (Heimarmene) ausgeliefert. Durch diese Tugenden sollte der Mensch das Ziel (Telos) erreichen können, dem göttlichen Logos so nahe als möglich zu kommen und so innere Harmonie erreichen. Erforderlich dafür war seiner Meinung nach Sittlichkeit, Ethik und ein tugendhaftes Leben innerhalb einer Gemeinschaft und Rücksicht auf die Mitmenschen.

Poseidionos, ein Schüler des Panaitios, spann den Gedanken des Logos fort: Er sah die Welt von Gottes Atem durchströmt. Dieser Gedanke des göttlichen Atems (Pneuma) setzte sich bei späteren Denkern fort.

Die Forderungen nach einem entsprechenden inneren Seelenleben und einer vom republikanisch geprägten Tugendbegriff (Virtus) geprägten Außenwelt prädestinierten den Stoizismus sich stärker von der Zurückgezogenheit des Individuums in Richtung Öffentlichkeit und Politik zu entwickeln. Die stoischen Tugenden wurden in republikanischer Manier in die Gemeinschaft eingebracht.[40]

Die Neue Stoa der Kaiserzeit wies kaum noch Neues auf. Viele Schriftsteller formulierten vor allem die Gedanken ihrer stoischen Vorgänger zeitgemäß um und brachten sie in eine für ein großes Publikum leicht verständliche Form. Dadurch schaffte es die Stoa zu einem der führenden und populärsten Gedankengebäude des 1. und 2. Jahrhunderts. Man könnte sagen, der Stoizismus war in der Popkultur angekommen. Die bekanntesten Philosophen dieser Epoche waren Seneca, der einflussreiche Politiker und Erzieher des Kaisers Nero, der freigelassene Sklave Epiktet und Marc Aurel (121 – 180). Ihre Schriften werden heute noch ob ihrer einfachen und klaren Ausrichtung gerne zitiert. Seneca orientierte sich sehr stark an den Denkern der mittleren Stoa. Epiktet war ein später Vertreter der sehr strengen und dogmatischen Auslegung der Alten Stoa. In seinem Handbüchlein der Moral formulierte er genaue Regeln, wie ein Mensch zu leben habe, um ein tugendhaftes Dasein zu führen: Erdulden und Ertragen von widrigen Umständen spielten dabei eine wichtige Rolle. Marc Aurel, dessen Amtszeit von Kriegen und Krankheiten geprägt war, er selbst starb an der Pest, wandte sich wieder verstärkt dem Inneren zu. Auch er sah das Schicksal als etwas an, das der Mensch zwar erkennen und durch tugendhaftes Tun beeinflussen könne, wohl aber auch zu ertragen habe. Die Welt betrachtete er als ein von einem Geist beseeltes Lebewesen.[41] Mit Marc Aurel, einem Philosophen auf dem Kaiserthron des Imperium Romanum, hatte die Stoa wohl ihren Bedeutungshöhepunkt erreicht.

Gemeinsame Themen in der Stoa und der paulinischen Gedankenwelt

 

Der Zeitgeist des 1. Jahrhunderts nach Christus war innerhalb des Imperium Romanum sehr stark von hellenistischen Philosophien geprägt. Besonders die Stoa hielt von Athen aus Einzug ins Imperium Romanum. Philosophie und Glaube gingen fließend in einander über. Für viele Zeitgenossen galten die Juden zwar auf Grund ihrer strengen religiösen Gesetze als für die Philosophie ungeeignet, viele frühe christliche Gruppen aber verhielten sich wie philosophische Schulen. Sie verehrten Jesus gleichermaßen wie griechische Philosophen Platon oder Aristoteles verehrten. Die Grenzen verschwammen auch in den Lehren, da viele christliche Lehrer als zeitgenössische Intellektuelle auftraten. Die Gemeinden waren oft elitäre Zirkel, aus denen heraus sich Lehrer-Schüler-Verhältnisse entwickelten.[42]

Jüdische Eliten waren durchaus offen für Einflüsse der sie umgebenden Welt. Das Urchristentum in Jerusalem aber stand in streng jüdischer Tradition und war von den Gesetzen der Tora bestimmt. Paulus, der aus dem hellenistisch geprägten Raum stammte, brachte neue Ansätze mit in die Gemeinschaft.

 

Tugend, Logos, Gott und Geist

 

Der Grundgedanke in Paulus’ Schriften galt dem guten Leben; dieses sei durch Tugendhaftigkeit und den Glauben an Gott zu verwirklichen. Paulus’ Gottesbild war ob seiner Abstammung selbstredend vom Judentum beeinflusst: „Höre Israel, der Herr, unser Gott ist einer!“[43] finden wir im Deuteronomium, einem Buch des Alten Testaments. Paulus übernahm die Einzigartigkeit Gottes, seine Allmacht und auch das Bild des Vaters denn „So gibt es denn für uns nur einen Gott, den Vater“[44]. Im Römerbrief beschrieb er Gott als allmächtige Instanz, die alle Dinge durchdrang „…denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge[45].

Gott war für Paulus sichtbar in den Werken der Schöpfung, also in der Natur. Er sah Gott auch als eine die Vernunft ansprechende Instanz. Gott gehört für ihn also durchaus auch der Verstandeswelt an. Dafür liefert er folgende Begründung: „Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit.“ [46]

Eine Trennlinie zog Paulus zwischen der göttlichen Macht und der Person Jesu. Jesus war der Sohn Davids in jüdischer Tradition. „Das Evangelium von seinem Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten, das Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn.[47] Der Sohn Gottes war nicht der nur vage umrissene Schöpfergott selbst. Paulus verzichtete zwar auf eine Personifizierung der göttlichen Macht, wie sie das Judentum und die verschiedenen Kulte des Hellenismus pflegten, griff dafür aber auf die Erlöserfigur Jesus Christus zurück.

Ziel der paulinischen Theologie war die Erlösung. Obwohl Paulus sich noch als Jude fühlte, stellte er den Glauben an Jesus Christus über das jüdische Gesetz. Das Gesetz erachtete er dadurch nicht als aufgehoben, sondern vielmehr durch den Glauben an den gerechten Gott, der Sünder straft, sogar gestärkt. Für Paulus waren alle Menschen, egal ob Juden oder Heiden, zuallererst Sünder. Die Vergebung der Sünden war zwar durch Jesu Opfertod erfolgt Um allerdings erlöst zu werden, bedurfte es des Glaubens.[48]

Das irdische Leben betrachtete Paulus als minderwertig gegenüber dem Leben nach dem Tod. Der Geist Gottes, der auch den Menschen durchdringt, war für Paulus die einzige Möglichkeit der Erkenntnis Gottes. Wer dem irdischen Leben anhing, konnte diesen Geist nicht empfangen.[49]Jetzt aber sind wir frei geworden von dem Gesetz, an das wir gebunden waren, wir sind tot für das Gesetz und dienen in der neuen Wirklichkeit des Geistes, nicht mehr in der alten des Buchstabens.“[50]

Um diese „Wirklichkeit des Geistes“ anstelle der des Gesetzes zu erreichen, gab Paulus Wege für ein tugendhaftes Leben vor. Im Römerbrief zählte Paulus Untugenden auf, die zur Bestrafung durch Gott führen würden:

Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, sodass sie tun, was sich nicht gehört: Sie sind voll Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Mord, Streit, List und Tücke, sie verleumden und treiben üble Nachrede, sie hassen Gott, sind überheblich, hochmütig und prahlerisch, erfinderisch im Bösen und ungehorsam gegen die Eltern.“[51]

 

Tugenden und Untugenden waren die Leitthemen der Stoa. Durch ein tugendhaftes Leben konnte man zwar nicht jenseitige Erlösung erlangen, sehr wohl aber irdische Ruhe und Frieden. Ziel der Philosophie war nicht das Leben nach dem Tod, sondern die irdische Eudaimonia, die durch ein tugendhaftes Leben zu erreichen war. Marcus Tullius Cicero beschrieb in seinem Werk De officiis die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Klugheit in starker Anlehnung an Panaitios. Diese Tugenden wurden auch schon in Platos Politeia beschrieben.[52]Die Kardinaltugenden Ciceros, auf dem die römische Ethik zu einem großen Teil aufbaute, waren also ein durchgängiges Konzept in der Antike.

 

Neben der Tugendlehre war, auch ohne die Vorstellung eines Jenseits, die Gestalt und Vorstellung des Göttlichen ein Thema, das Stoiker stark beschäftigte. Diese Vorstellung aber war alles andere als einheitlich und wandelte sich sehr stark im Laufe der Jahrhunderte. Der Stoizismus basierte seine Konstruktion des Göttlichen auf einem dualen System: dem Aktiven, also Dingen, die der Mensch beeinflussen kann, einerseits und dem Passiven, Dingen im Rahmen des Schicksals, denen jeder ausgeliefert ist, andererseits. Das vernünftige und aktive Element wurde vom Logos repräsentiert. Diesen Logos sollte man sich als göttliche, alles durchdringende Vernunft, als pneumatisches Element der Welt vorstellen. Er manifestierte sich im Menschen und seinem Handeln als Tugenden und Laster. Die Seele des Menschen, die ebenfalls von diesem Logos durchflutet wurde, war dem göttlichen Logos ähnlich. Klemantes zum Beispiel besang in seinem Hymnus einen Gott, den er der guten Ordnung halber als Zeus ansprach, der alles durchdrang und in Allmacht und Vernunft alles harmonisierte sowie den Lauf der Welt vorherbestimmte. Der Mensch könne sich dem nur fügen und sich dem Schicksal unterwerfen.[53]

Pneuma stellten sich Stoiker durchaus als etwas Materielles vor. Deshalb wurde der Teil der Lehre, der sich damit beschäftigte, der Physik zugerechnet. Maximilian Forschner beschreibt Pneuma als „die göttliche Seele des Kosmos“, wohingegen Gott als „leitendes Organ der Welt“ und gleichzeitig als „Seele der Welt“ beschrieben wird. Pneuma war für Stoiker die Basis der Verbindung von allem mit allem im Kosmos, vom Kleinsten bis zum Größten (Sympatheia).[54]

 

Stoiker glaubten vielfach nicht an die traditionelle Götterwelt. Diese Haltung ging bereits auf den Vorsokratiker Xenophanes zurück, dem der Ausspruch „Wenn sich die Tiere Götter erfänden, so erfänden sie solche ganz gewiss auch nach ihrem Bilde, und wüssten sich damit soviel wie wir“ zugeschrieben wird. Die Projektion menschlicher Eigenschaften in das göttliche Prinzip, wie sie in der Götterwelt der Griechen vorwiegend zu finden war, war den Stoikern ein Grauen. Diese Götterwelt stellte für sie Aberglaube dar, womit sich ihre Haltung vom jüdischen Urteil über das Heidentum nicht allzu sehr unterschied. Die in den Geschichten von Affekten und Leidenschaften geleiteten Götter des Olymps hätten wohl auch nicht in ihr Bild des vernünftigen Logos gepasst, der alles durchdrang. Gott existierte für sie in vielerlei nicht einheitlich und klar definierbarer Hinsicht.[55]

 

Die Natur war für Stoiker der Beweis für die Existenz des Göttlichen. Seneca schrieb in seinem Werk Von der göttlichen Vorsehung, es sei „leicht für ihn als Anwalt der Götter aufzutreten“, da „dieser gewaltige Weltenbau nicht bestehen könne ohne irgendeinen Hüter“. Plötzliche Naturphänomene wie Blitz, Regen, Vulkanausbruch oder Erdbeben, ganz zu schweigen von regelmäßigen Prozessen wie Ebbe und Flut, waren für ihn ohne einen vernünftigen Weltenlenker undenkbar.[56]

Epiktet erklärte, dass es vollkommen unwichtig sei, welche Vorstellung man vom Logos oder den Göttern habe. Wichtig für den Menschen sei lediglich, diesem alles durchdringenden Konzept zu gehorchen. Er führte aus, dass „was die Frömmigkeit gegenüber den Göttern betrifft, so wisse, dass es hauptsächlich darauf ankommt, richtige Vorstellungen über sie zu haben: dass sie existieren und das Weltall gut und gerecht regieren und dass du die Bereitschaft haben musst, ihnen zu gehorchen und dich allem, was geschieht zu fügen und freiwillig zu folgen.[57]

Cicero, der sich in seiner Schrift Vom Wesen der Götter an Poseidonios anlehnte, beschrieb dieses Prinzip als alldurchdringende Wärme. Er sah die Funktionen des menschlichen Körpers ebenso von Wärme angetrieben wie die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft. Wärme sei es, die die Welt zusammenhält. Der Wärme als Urstoff attestierte er Vernunft. Durch diese Vernunft, den Logos, sei innerhalb der Welt alles mit allem verbunden. Dieses Wesen, das die ganze Welt zusammenhielt, die Gottheit also, sei vollkommen vernünftig.[58]

Epiktet sprach ebenfalls von einer Verknüpfung von allem mit Gott und umgekehrt. Er sprach nicht mehr von Göttern, sondern von einem Gott. Diesem Wesen attestierte er Allwissenheit wenn er schrieb „…Gott sollte nicht imstande sein, alles zu sehen, bei allem gegenwärtig zu sein und Anteil zu nehmen?[59] Der Mensch müsse sich diesem Prinzip in jedem Fall unterordnen, je weniger er sich dagegen wehren würde, desto glücklicher verliefe sein Leben. In seinem Handbüchlein der Moral trieb Epiktet diesen Gedanken auf die Spitze. Er erkannte die Allmacht Gottes über das menschliche Dasein an.

Sag nie von einer Sache: Ich habe sie „verloren“, sondern: Ich habe sie zurückgegeben. Dein Kind ist gestorben? Es wurde zurückgegeben… Was schert es dich, durch wen es der Geber von dir zurückforderte? Solange er es dir zur Verfügung stellte, behandle es als fremdes Eigentum wie die Reisenden ihre Herberge.“[60]

 

Gutes und Schlechtes, das einem Menschen im Laufe des Lebens widerfährt, sah Seneca als eine Art Probe, die es zu ertragen gilt: „Ebenso müssen sich die Guten verhalten: Sie dürfen das Harte und Schwere nicht scheuen und dürfen sich nicht über das Schicksal beklagen; was auch kommen mag, sie müssen sich darein schicken, müssen es zum Guten auslegen,[61] lautet seine Handlungsanweisung und Empfehlung zum Umgang mit Schicksalsschlägen.

 

Freiheit

 

Sowohl das Pharisäertum, dem Paulus entstammte, wie auch die Stoa basierten auf einem deterministischen Weltbild. Gott war allmächtig, der Logos alldurchdringend, nicht nur in kosmologischer Sicht, auch das Schicksal des Menschen war vorherbestimmt. Der Mensch sollte den Willen eines lenkenden, das Schicksal bestimmenden Gottes erkennen und ihn befolgen.[62]

Paulus rief dazu auf, den Stand, der einem Menschen von Gott zugewiesen war, einzuhalten, sein Dasein, sein Schicksal anzunehmen. Wer als Sklave geboren wurde, könne durch den Glauben an den Herrn frei werden, wenn auch nur innerlich.[63] Den Gedanken der Freiheit und Gleichheit im irdischen Dasein vermied Paulus. Er plädierte dafür, die staatliche Ordnung einzuhalten. Dies tat er wohl auch, weil er den Machthabern keinen Grund zur Verfolgung des Christentums geben wollte. Er sah die Staatsgewalt als Diener Gottes. Hauptgrund, der Obrigkeit zu gehorchen, sei aber das Gewissen, nicht die Angst vor Bestrafung.[64]

 

Der Gedanke der inneren Freiheit war ein Leitthema der Stoa. Äußere, irdische Freiheit und Agenden, die das soziale Gefüge durcheinanderbringen konnten, ließen sie wie Paulus außen vor. Stoiker fanden Freiheit in der Unabhängigkeit von Nicht-Nötigem (Adiaphora). Das Streben nach äußeren Gütern wie Macht, Besitz und Geld lehnten sie ab, zumindest offiziell in schriftlicher Form. Wer nach diesen Dingen trachte, sei dem Schicksal ausgeliefert und somit unfrei. Um zu erklären, warum Wohlstand innerhalb eines Weltbildes, das auf Verzicht basierte, nicht verwerflich sei, griffen wohlhabende Stoiker wie Seneca zu einem klugen Kniff: Wem das Schicksal Güter, die eigentlich zum Bereich der Adiaphora zählten, zuwies, dem war es durchaus erlaubt, diese zu genießen.[65]Zusammenfassend lässt sich festhalten: Macht, Ansehen und Reichtum waren nicht erstrebenswert, es sei denn sie wurden einem vom Schicksal zugeteilt.

Wichtig war lediglich, gemäß der Natur zu leben. Nur wer sich von allen Affekten befreite, konnte Glück und Ruhe (Eudaimonia) finden. Das Einzige, das wahrhaft zählte, trug jeder Mensch in sich, nämlich die Tugend in Form der Kardinaltugenden.

Stoiker betrachteten die Welt als vom Schicksal durchzogen und den göttlichen Logos als das ordnende Element. Der Mensch konnte sich innerhalb des Logos zwar frei für das Gute oder das Schlechte entscheiden, Dichte, Mischung und Spannung des Pneuma in einem Lebewesen oder Ding bestimmten aber seine Tugenden sowie sein Maß an Vernunft. Das wiederum hatte Einfluss auf seine Entscheidungen und Taten. Die Welt war nach stoischem Verständnis eine Verknüpfung von Kausalitäten. Panaitios, der wichtigste Vordenker für das römische Verständnis der Stoa Ciceros und Senecas, sah den Menschen als Entscheider über sein Schicksal. Er lockerte ein wenig das zwanghafte Verständnis von Freiheit, das in der Alten Stoa vorherrschte. Das tugendhafte Leben war für ihn die Freiheit der Wahl eines jeden einzelnen, auch wenn der Aspekt des vom Logos determinierten Ganzen blieb.[66]Wenn sich der Mensch seinem Schicksal fügte, konnte er sein Seelenheil finden.[67]

Stoische Denker drückten dies sehr unterschiedlich aus. Das Schicksal war zwar immer ein bestimmendes Element, der Umgang damit aber unterschied sich durchaus erheblich.
Panaitios’ war mit seinem Freiheitsbegriff sehr nahe an den Epikureern und ihrer Definition vom gelungenen Leben. Begierde, Furcht, Lust und Zorn galt es seiner Ansicht nach zu vermeiden, um Seelenruhe zu erreichen. Ein gelungenes Leben war die Freiheit von Unangenehmem. Freiheit war also etwas, das der Mensch beeinflussen konnte, auch innerhalb des ihm vorgegebenen Schicksals.[68]

Seneca versucht sich in der Beantwortung der Frage, warum die Vorsehung, also Gott, die Menschheit Übel erleiden lässt. Er stellte die Vorsehung, den Logos, als Weltenordner dar, ohne den Kosmos und Natur nicht annähernd denkbar wären. Schicksalshürden sah Seneca als Proben, die der Mensch mit Gelassenheit und Ruhe ertragen solle. Das Erdulden von Schicksalsschlägen galt ihm als Tugend.[69] Er plädierte dafür, „mutig alles auf sich zu nehmen, weil das Eintreten der Ereignisse nicht, wie wir wähnen, zufällig erfolgt, sondern bestimmungsgemäß[70]. Seneca erachtete Schicksalsschläge nicht als das wahrhaft Schlimme im Leben. Als Übel sah er Charakterschwächen, Laster und Lust aller Art an. Diese Übel würden dem Tugendhaften durch die Vorsehung erspart bleiben, womit jedes Schicksal erträglich wäre. Auch den Tod, die „Trennung von Körper und Seele“ soll der Mensch nicht fürchten, sondern ertragen.[71]

Passiver legte Epiktet die Rolle des Menschen innerhalb des determinierten Daseins an. Er fasste den empfohlenen Umgang mit dem Schicksal in seinem Handbüchlein der Moral in einem Satz zusammen: „Verlange nicht, dass das, was geschieht, wie du es wünschst, sondern wünsche, dass es so geschieht, wie es geschieht und dein Leben wird heiter dahinströmen.[72] Er verglich das Leben mit einem Theaterstück. Welche Rolle man darin spiele, obliege dem Schicksal. Der Mensch könne lediglich die ihm zugeteilte Rolle möglichst gut ausfüllen.[73]

 

Körperlichkeit, Verzicht und Sexualität

 

Das Verhältnis von Körper und Geist und die sich daraus ergebenden Folgen für einen tugendhaften Lebenswandel war in den Paulusbriefen ein zentrales Thema. In vielen Passagen ging Paulus auf das Primat des Geistes über den Körper ein. Er sah im irdischen Dasein, das von Sünde durchdrungen war, die Verhinderung eines tugendhaften Lebens, wenn er sagt, dass er „… weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen.[74]

In den Paulusbriefen lassen sich viele Ansichten, die das Christentum für Jahrhunderte bestimmen sollten, feststellen. Setzt man das ,Fleisch‘ des Paulus mit dem Dasein als Mensch gleich, wird klar, wie sich das sündige Bild des irdischen Lebens in weiterer Folge in der Kirche entwickelte.

Denn alle, die vom Fleisch bestimmt sind, trachten nach dem, was dem Fleisch entspricht, alle, die vom Geist bestimmt sind, nach dem, was dem Geist entspricht. Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden. Denn das Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; es unterwirft sich nicht dem Gesetz Gottes und kann es auch nicht. Wer vom Fleisch bestimmt ist, kann Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht vom Fleisch, sondern vom Geist bestimmt, da ja der Geist Gottes in euch wohnt. Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm. Wenn Christus in euch ist, dann ist zwar der Leib tot aufgrund der Sünde, der Geist aber ist Leben aufgrund der Gerechtigkeit.[75]

 

Im irdischen Leben war es nach Paulus unmöglich, ein tugendhaftes Leben nach dem vernünftigen Willen Gottes zu führen. Der Ausweg aus dieser Misere führte über den Glauben an Jesus Christus. Dem Leib schrieb Paulus lediglich negative Eigenschaften zu, dem Geist hingegen durchwegs positive. Wer den leiblichen Untugenden nachging, konnte nicht in das Reich Gottes eingehen, denn

die Werke des Fleisches sind deutlich erkennbar: Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Missgunst, Trink- und Essgelage und Ähnliches mehr… Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung; dem allem widerspricht das Gesetz nicht.[76]

Den Geist und die darin wohnende Vernunft hingegen sah Paulus als Möglichkeit dem Gesetz Gottes nachzukommen. „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn! Es ergibt sich also, dass ich mit meiner Vernunft dem Gesetz Gottes diene, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde.“[77]

Da dem Körper ohnehin nur wenig Wert beigemessen wurde, war ein ausschweifendes Leben nicht erstrebenswert. „Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht. Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an und sorgt nicht so für euren Leib, dass die Begierden erwachen.“ [78] Je geringer die körperlichen Bedürfnisse beachtet würden, desto eher sei es möglich die Begierden und Leidenschaften, die dem Eintritt in das Reich Gottes im Wege standen, zu vermeiden.

 

Paulus antikörperliche Haltung war keineswegs neu, sondern entsprach dem Zeitgeist. Diesem Konzept folgte das tugendhafte Leben der Stoiker. Die stoischen Tugenden ähnelten sehr der ,Frucht des Geistes‘, die Paulus im Galaterbrief beschrieb. Besonders strikt folgte Epiktet diesem Konzept der Körperfeindlichkeit.

Krankheit ist hinderlich für den Körper, für die sittlichen Grundsätze aber nicht, falls sie selbst es nicht wollen. Lähmung ist hinderlich für das Bein, für die sittlichen Grundsätze aber nicht. Sag dir das bei allem, was dir zustößt. Du wirst nämlich finden, dass es für irgendetwas anderes hinderlich ist, nicht aber für dich.“[79]

Epiktet selbst war körperlich versehrt und hinkte; er soll diesen Makel aber mit stoischer Gelassenheit ertragen haben. Der Körper gehörte für Stoiker zu den nicht nötigen Äußerlichkeiten. Körperliches habe keinerlei Einfluss auf das sittliche und tugendhafte Leben eines Menschen. Während Paulus den Ausweg aus dem ,fleischlichen‘ Leben durch den Glauben und die damit einhergehende Erlösung als Endziel betrachtete, galt das stoische Streben nicht dem Eintritt in ein jenseitiges metaphysisches Reich, sondern der Seelenruhe zu Lebzeiten (Ataraxia).

In der Mittleren Stoa wurde die totale Bedürfnislosigkeit, wie sie noch von Zenon gelehrt wurde, zwar abgeschwächt, sie war aber weiterhin fixer Bestandteil der stoischen Philosophie. Mit dieser Relativierung der Bedürfnislosigkeit war es möglich, die Stoa auch in elitären Kreisen zu leben. Stoisch zu leben, bedurfte damit keiner strengen Enthaltsamkeit mehr und wurde so auch für die besitzende Klasse attraktiv. Ziel war es, durch Selbstgenügsamkeit (Autarkia) ethische Tugend zu erlangen. Durch Askese und Verzicht sollte die Unerschütterlichkeit der Seele erreicht werden.[80]

Panaitios erkannte die Lust im Menschen an, allerdings sollte sie nicht vergänglichen Dingen gelten. Äußere Dinge, wie auch sonst in der Stoa, sollten vom Menschen hingenommen werden. Dazu zählten Krankheit und Tod. Mäßigung war bei Panaitios ein zentrales Tugendelement, auch wenn er dem Menschen mehr Freiheit zuerkannte als die allerstrengsten Stoiker wie etwa Epiktet.[81]

Gerade beim Thema Maßhalten findet man nicht nur zwischen Stoa und Paulus Ähnlichkeiten. Bescheiden zu leben, war kein rein stoisches Prinzip; dieses Prinzip findet sich auch in anderen hellenistischen Denkschulen wieder. Auch in Epikurs Philosophie, in der Hedone als Leitsatz galt, war Maßhalten als oberstes Prinzip. Für Epikur war Lust zwar das höchste Gut; in seiner Definition meinte Lust aber nicht ein hedonistisches Streben nach kurzfristigem Vergnügen, sondern etwas, das durch ein genügsames Leben entstand. Lust entstand aus der Abwesenheit von Mangel und Schmerz: „…daß bescheidene Suppen ebensoviel Lust erzeugen wie ein üppiges Mahl, sowie einmal aller schmerzende Mangel beseitigt ist, und daß Wasser und Brot die höchste Lust zu verschaffen vermögen, wenn einer sie aus Bedürfnis zu sich nimmt.

Schmerz war nicht gänzlich abzulehnen, da aus ihm ja auch nachhaltige Lust entstehen könne. Ebenso wenig war aber Lust um jeden Preis ein Ziel, da sich daraus ja auch Leiden ergeben könne.

Denn nicht Trinkgelage und ununterbrochenes Schwärmen und nicht Genuß von Knaben und Frauen und von Fischen und allem anderen, was ein reichbesetzter Tisch bietet, erzeugt das lustvolle Leben, sondern die nüchterne Überlegung, die die Ursachen für alles Wählen und Meiden erforscht und die leeren Meinungen austreibt, aus denen die schlimmste Verwirrung der Seele entsteht.[82]

Epikur mag die Antipode zu den Stoikern gewesen sein, darauf ging Seneca, der ihn sehr schätzte,[83] über 300 Jahre nach dessen Tod in seinen Moralischen Briefen an Lucilius explizit ein. Die ähnliche Haltung zu Verzicht bei den sich nicht gerade in freundschaftlichem Verhältnis gegenüberstehenden Schulen des Epikureismus und der Stoa sowie des Paulus lassen erahnen, dass Maßhalten dem allgemeinen Zeitgeist entsprach.

 

Besonders intensiv beschäftigte sich Paulus mit der Sexualität. „Hütet euch vor der Unzucht! Jede andere Sünde, die der Mensch tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib.“[84]Als Unzucht galten sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe. Die „entehrenden Leidenschaften“ für „widernatürlichen Verkehr“ sah Paulus sogar als Strafe Gottes an.[85]

Dafür sah er Ehepartner in der gegenseitigen Pflicht, sexuell aktiv zu sein, um nicht der außerehelichen Unzucht zu verfallen. Paulus ermahnte dazu „…mit seiner Frau in heiliger und achtungsvoller Weise zu verkehren, nicht in leidenschaftlicher Begierde wie die Heiden, die Gott nicht kennen…“[86] Zwar sei Ehelosigkeit zu bevorzugen, er erkannte aber die Unmöglichkeit dieser Forderung. Die christliche Ehe mit den damit einhergehenden „ehelichen Pflichten“ ließ er wohl auch deshalb als die zweitbeste Möglichkeit nach der vollkommenen Enthaltung gelten.

 

Sexuelle Enthaltsamkeit war keine christliche Eigenheit, auch stoische Denker riefen dazu auf. Allerdings forderte die Stoa ähnlich wie Paulus keine gänzliche sexuelle Enthaltung. Waren sich spätestens die Stoiker der Mittleren Stoa darin einig, dass vollkommene Enthaltung unmöglich sei? Perfektion war scheinbar nicht der Anspruch, wenn es um den Sexualtrieb ging. Panaitios gestand dem Individuum mehr Entscheidungsfreiheit zu. Für ihn war der „unerreichbare Weise“, der perfekte affektlose Mensch, nicht mehr die Vorgabe, der Mensch sollte „gut“ leben, das genügte.[87] Cicero, der sich auf Panaitios berief, wies in seiner Schrift De Officis darauf hin, dass die officia perfectanur den Weisesten vergönnt, das Ideal der officia media aber für Jedermann erreichbar sei.[88]

Ähnlich sah dies sogar der sonst so strenge Epiktet: „Verzichte vor der Ehe möglichst auf geschlechtliche Beziehungen: Wenn du dich aber darauf einläßt, so tue es im Rahmen des gesetzlich erlaubten[89]. Auch er argumentierte ähnlich wie Paulus. Er wusste um die Unmöglichkeit der Forderung, den Sexualtrieb vollkommen zu unterdrücken, plädierte aber dafür, ihn zumindest unter Kontrolle zu halten und in der Ehe auszuleben.

 

 

 

Universeller Anspruch und Öffnung

 

Während für die Jerusalemer Urgemeinde der Glauben an Jesus Christus exklusiv den Juden vorbehalten war, vertrat Paulus hier eine ganz andere Ansicht. Unter dem Geist Gottes sah Paulus alle Menschen aus der Sklaverei des Fleisches befreit und, egal welcher Herkunft, als Kinder und Erben Gottes auf einer Stufe.[90] Paulus hatte auch kein Problem damit, Traditionen und Rituale der ,heidnischen‘ Welt zu akzeptieren. Für ihn stellte zum Beispiel der Verzehr von Opferfleisch kein Problem dar. Er begründete das damit, dass für Christusanhänger Götter ohnehin nicht existierten, somit das Opferfleisch keine Bedeutung habe. Er sah das für den Götzendienst vorgesehene Fleisch als einen Teil der Welt und somit als einen Teil Gottes an. Für Paulus war das christliche Leben mehr von Haltung, als von Gesetzen bestimmt. [91] Er verfolgte einen kosmopolitischen, völkerverbindenden und auch soziale Grenzen überwindenden Ansatz. „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus.“[92] Während Petrus und Jakobus weiterhin auf die Beschneidung und die Einhaltung der Speisegesetze bestanden und somit ihre Bedeutung willentlich auf das Judentum begrenzten, sah sich Paulus, wie er betonte, „Griechen und Nichtgriechen, Gebildeten und Ungebildeten (…) verpflichtet.“[93] Das ermöglichte ihm, den Glauben an Jesus Christus im Rahmen seiner Missionsarbeit auch den ,Heiden‘ näherzubringen.

 

Not und Bedrängnis wird jeden Menschen treffen, der das Böse tut, zuerst den Juden, aber ebenso den Griechen; Herrlichkeit, Ehre und Friede werden jedem zuteil, der das Gute tut, zuerst dem Juden, aber ebenso dem Griechen; denn Gott richtet ohne Ansehen der Person. Alle, die sündigten, ohne das Gesetz zu haben, werden auch ohne das Gesetz zugrunde gehen und alle, die unter dem Gesetz sündigten, werden durch das Gesetz gerichtet werden. Nicht die sind vor Gott gerecht, die das Gesetz hören, sondern er wird die für gerecht erklären, die das Gesetz tun.“[94]

Paulus sah Gott als den ultimativen Richter über Gut und Böse, nicht die jüdischen Gesetze. Anders als die Tora würde Gott in einem universellen Rechtsverständnis nicht zwischen Juden und Griechen unterscheiden. Gut und Böse waren für Paulus keine relativen, auf das Judentum begrenzte Aussagen, sondern absolut und allgemein valide. Ein Verstoß hingegen gegen ein jüdisches Speisegebot war für einen Griechen vollkommen irrelevant, da die Tora nur innerhalb der jüdischen Weltsicht Gültigkeit hatte. Paulus erweiterte sein Wertverständnis des Guten auf alle Menschen, unabhängig ob Jude oder nicht. Damit verlor auch die Beschneidung als äußeres Zeichen der Religionszugehörigkeit an Wert denn

Jude ist nicht, wer es nach außen hin ist, und Beschneidung ist nicht, was sichtbar am Fleisch geschieht, sondern Jude ist, wer es im Verborgenen ist, und Beschneidung ist, was am Herzen durch den Geist, nicht durch den Buchstaben geschieht. Der Ruhm eines solchen Juden kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.“[95]

Die Beschneidung allein machte für Paulus einen Menschen noch nicht zu einem Gläubigen. Ebenso wie das Gesetz vom Wort in die Tat umgesetzt und somit in etwas Faktisches verwandelt werden sollte, sollte sich der Glaube an das Judentum, dem Paulus ja noch immer angehörte, durch Taten manifestieren. Mit diesem Manöver nahm Paulus einerseits den exklusiv jüdischen Schriftgesetzen etwas von ihrer Bedeutung weg und fügte diese Bedeutung andererseits dem Glauben an Jesus Christus hinzu.

Das Kriterium, über das sich der Glaube an Jesus als Erlöser und somit die Zugehörigkeit zum Christentum zeigte, war die Taufe im Namen Christus´. Paulus schaffte es über den Taufspruch, die Grenzen zwischen Juden und der hellenisierten, nichtjüdischen Bevölkerung aufzuheben und das Christentum für alle zugänglich zu machen. Mit dem Argument, wonach es Abraham, der als Stammvater Israels die Beschneidung einführte, prophezeit war, ganze Völker als Nachkommen zu haben, konnte Paulus es vertreten, dass Christen auch ohne Beschneidung in jüdischer Tradition stehen konnten. Das Christentum wurde damit zu einer vom Judentum unabhängigen Bewegung. Insofern war er auch der Ansicht, dass das gemeinsame Abendmahl zwischen Juden- und Heidenchristen sowie der Verzicht auf die Beschneidung vertretbar waren.[96]

 

Die Stoa pflegte ebenfalls den universellen Gedanken und den Kosmopolitismus. Über den Logos waren Kosmos und Individuum miteinander verbunden. Durch diese göttliche Vernunft hatten Menschen die Möglichkeit zu sittlichem und tugendhaftem Verhalten. Diese Verbindung mit dem Logos war nicht durch ethnische oder soziale Herkunft beschränkt. Anders als das Judentum, dessen Gesetze für einen auserwählten Kreis galten, war die Stoa eine Philosophie, die allen Menschen offenstand. In Panaitios, Cicero, Seneca und Epiktet finden wir vier der wichtigsten Vertreter der Stoa, von denen keiner aus Athen oder Rom, den philosophischen oder machtpolitischen Zentren ihrer Zeit, stammte. Epiktet war darüber hinaus ein freigelassener Sklave, der es über seine Philosophie zu großer Bekanntheit brachte. Da Freiheit im stoischen ;nicht von sozialem Status, Macht, Reichtum oder tatsächlicher Freiheit abhängig war, wäre es inkonsequent gewesen, den Zugang zur Stoa auf eines dieser Kriterien zu beschränken. In der politischen Realität wurden allerdings weder die Sklaverei noch die Herrschaft Roms über andere Völker in Frage gestellt. Logisch zu Ende gedacht war dies auch nicht notwendig, handelte es sich dabei doch um Adiaphora, also zu vernachlässigende Äußerlichkeiten, die den wahrhaft Weisen und Tugendhaften nicht in seiner Freiheit einschränken konnten, wenn er die stoische Sicht auf Freiheit konsequent und bis zum Ende durchexerzierte.

Stoiker anerkannten das Göttliche in Form des Logos nd betrachteten den Glauben an die homerische Götterwelt als Aberglaube, es gab aber darüber hinaus keine Vorbehalte gegen andere Religionen, zumindest nicht mehr als gegen die homerische Götterwelt. Die hellenistische Welt verfügte über eine große, nicht klar definierte Vielfalt an Religionen. Durch den vagen Begriff des Logos war es möglich, der stoischen Philosophie und Lebensweise anzuhängen und gleichzeitig die Traditionen eines Götterkultes zu pflegen. Das ermöglichte es der Stoa, eine große Anzahl von Menschen unterschiedlichsten Glaubens anzusprechen.

Fazit

 

Paulus gilt bis heute als einer der Architekten des Christentums. Herkunft, Bildung, Charaktereigenschaften und Charisma ermöglichten es ihm sich innerhalb des Urchristentums entscheidend durchzusetzen und diesem eine neue Richtung zu geben. Er war jüdisch, stand aber gleichzeitig unter einem starken hellenistischen Einfluss. Paulus war das, was Lena Strauß als ,graecopalästinisch‘ bezeichnet.[97] Auf seinen Reisen kam er mit den Gedanken verschiedener philosophischer Schulen in Kontakt. Philosophie und Religion verschwammen in Städten wie Athen und Antiochia. All das prägte ihn und spiegelt sich in seinen Schriften wider.

Auch Aufbau und Struktur seiner Organisation erinnern in vielen Punkten an eine Philosophenschule in griechischer Tradition. Er und seine Anhänger diskutierten Schriften und nahmen die Mahlzeiten gemeinsam unter dem Aspekt eines Freundschaftsideals im Sinne der Pythagoräer und Epikureer ein. Die Abgrenzung zu anderen Einflüssen innerhalb der neuen Lehre, die am Apostelkonvent bemerkbar war, erinnert an die Konkurrenz zwischen Epikurs Lehren und die der Stoiker.[98]

 

Es war nichts revolutionär Neues an den Fragen denen sich Paulus widmete, auch viele mögliche Antworten wurden schon lange vor seiner Zeit gegeben. Er allerdings verband den christlich-jüdischen Glauben mit den Gedanken der hellenistischen Philosophen und öffnete so diese Bewegung für die Außenwelt. Der religiöse Auferstehungsgedanke traf in Paulus auf die vernunftgetriebene Philosophie des Hellenismus.

Viele Themen mit denen sich hellenistische Philosophien beschäftigten, finden wir auch in den paulinischen Briefen wieder. Die Stoa als führende Denkrichtung des 1. Jahrhunderts hatte mit Sicherheit Einfluss auf Paulus. Fragen wie das Verhältnis von Gott und Mensch, tugendhaftem Benehmen und Freiheit in einer determinierten Welt waren allerdings keine Spezifika des Judentums oder der Stoa, sondern hatten die Menschen schon immer angetrieben beziehungsweise beschäftigen sie Philosophen und Theologen bis heute. Auch Epikur behandelte diese Themen. Bei Themen wie Mäßigung oder Körperlichkeit scheint eine gewisse allgemeine Grundübereinstimmung zwischen den hellenistischen Philosophien als Ausdrucks des Zeitgeists geherrscht zu haben. Die größte Übereinstimmung in ethischen Fragen herrschte aber zwischen Stoa und der paulinischen Philosophie.

 

Paulus entstammte dem Pharisäertum. Diese Richtung des Judentums hing ähnlich wie die Stoa einem deterministischen Weltbild an. Der Glaube an eine alles bestimmende Macht war im 1. Jahrhundert Mainstream. Dietrich-Alex Koch sieht auch das Narrativ und die Beschreibung der Akteure in der Apostelgeschichte als von Gott determiniert an, ein weiterer Hinweis auf die Allgegenwärtigkeit dieses Weltbildes.[99] Epikurs Ansicht, die sich am Atomismus Demokrits orientierte, wonach die Welt keineswegs gelenkt war, stellte zwar eine Gegenposition dar, einflussreicher war aber die Annahme eines Schicksals, dem alles unterworfen war.

Dieses weit verbreitete deterministische Weltbild warf das Problem der Frage nach der Freiheit auf. Wie konnte sich der Mensch zwischen Gut und Böse frei entscheiden, wenn doch alles vorherbestimmt war? Zusammengefasst besagte das stoische Prinzip der Freiheit in einer determinierten Welt: Der Mensch ist zwar frei Entscheidungen zu treffen, die Entscheidungsfindung allerdings wird von seinem Pneuma bestimmt, was ihn im Umkehrschluss wieder zu einem determinierten Lebewesen werden lässt.[100] Sein Schicksal mit Gleichmut zu ertragen, war die Aufgabe des Menschen laut der Stoa. Über diese Gleichmut und den Einklang mit der Natur, also dem Logos, war es möglich, innere Seelenruhe zu erlangen, die wiederum zur irdischen Erlösung führte.

Dieser Argumentation folgte auch Paulus. Sein Freiheitsbegriff war unabhängig von einer Freiheit im materialistischen Sinn. Er riet davon ab, nach weltlicher Macht und Reichtum zu streben. Frei war, wer innerlich frei war. Tatsächliche Freiheit war ohnehin erst im Leben nach dem Tod zu erhoffen. Die Aufforderung, den eigenen Stand im irdischen Leben einzuhalten und nicht gegen die Obrigkeit aufzubegehren, war ein kluger Schachzug um das Christentum vom Verdacht der Revolution, Aufwiegelei und Demagogie freizusprechen. In weiterer Folge sollte sich daraus eine Einheit aus Staatlichkeit und Kirche bilden. Noch das Feudalwesen sollte sich an diese Philosophie halten, die schon antike Philosophen und Paulus vertraten. Sich dem eigenen Stand, der von Schicksal, Logos oder eben Gott zugeteilt war, zu widersetzen, bedeutete sich einer allwissenden Allmacht zu widersetzen.

 

Der allmächtige Gott des Judentums entsprach dem alldurchdringenden Prinzip des stoischen Logos. Paulus führte die jüdische Definition des allmächtigen Gottes in seiner Theologie konsequent fort, zumindest auf den ersten Blick. Gott manifestierte sich im Alten Testament zwar ebenfalls in mehreren Formen, war aber eine einheitlichere Vorstellung als das nur vage beschriebene Konzept des stoischen Logos. Der Wille Gottes drückte sich im Judentum über die 10 Gebote sowie über die Gesetze der Tora aus. Als Jude achtete Paulus das Erste Gebot (Anm.: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben). Auch Bestrafung als Konzept, die im Alten Testament Phänomene wie die Sintflut oder die Zerstörung von Sodom und Gomorrha über die Menschen brachten, behielt er bei. „Denn der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten.[101] Gott war bei Paulus also durchaus von Affekten wie dem Zorn durchzogen.

Der Einfluss der Stoa auf das paulinische Gottesbild ist unübersehbar. Gott war für Paulus zwar noch immer „einer“, er hatte also durchaus die Vorstellung einer Person in jüdischer Tradition. Auch in den Kulten des Hellenismus waren Götter keine abstrakten Vorstellungen einer höheren Macht, sondern physische Wesen. Paulus verwandelte diesen Gott aber in eine „unsichtbare Wirklichkeit“ in einem abstrakteren Sinn als es im Judentum Usus war. Gott konnte durch Vernunft erfahren werden.[102] Eine Vernunft, die ihn in eine Einheit mit dem Menschen verwandelte. Gott war als Schöpfer und Lenker ähnlich wie für Seneca ersichtlich in der Natur. In dieser Natur war Gott eins mit dem Menschen, ähnlich dem Logos, der Kosmos und Mensch gleichermaßen erfüllt. Diese Vernunft war auch in Ciceros De officiis ein wichtiges Thema: In ihr unterschied sich der Menschen vom Tier.[103] Der Logos verband alles mit allem.

 

Diese Verbindung verlangte nach einem Menschenbild, das sich sehr von dem des Judentums unterschied. Nicht ein Volk war von Gott auserwählt, alle Menschen waren Teil dieses kosmischen Plans. Paulus war Jude, jedoch teilte er als Diasporajude nicht die exklusive Sicht auf Gott mit der Jerusalemer Urgemeinde. Gott und Erlösung waren nicht an Kriterien wie Beschneidung oder die Einhaltung von Speisegesetzen gebunden, sondern standen auch Nichtjuden offen. Erlöst werden konnte, wer an Jesus Christus glaubte, unabhängig von seiner Herkunft und Zugehörigkeit ebenso wie jeder die innere Freiheit und Seelenruhe unabhängig von Herkunft und Stand erlangen konnte. Diese Öffnung des Judentums nach außen passierte über Paulus quasi von außen. Über diese Universalität war es ihm in weiterer Folge möglich, seine Missionsarbeit zu betreiben und seine Gedanken einem größeren Publikum zugänglich zu machen.

Diese Mischung aus dem die Natur durchdringenden Logos der Stoa und dem paulinischen, jüdisch geprägten Bild eines durchaus zornigen und rachsüchtigen Gottes ist ein bemerkenswertes Beispiel für seine sowohl jüdische wie auch hellenistische Prägung. Paulus näherte sich über diese Darstellung dem vagen Begriff des hellenistischen Logosan und vermengte so die jüdische Definition Gottes mit der stoischen Annahme eines durchdringenden Weltgeists. Das Evangelium des Johannes beginnt in der gängigen deutschen Übersetzung mit „Am Anfang war das Wort[104], wobei „Wort“ die deutsche Übersetzung des griechischen Wortes Logos darstellt. Die Gottesbegriffe der den paulinischen Briefen nachfolgenden Evangelien bauen also durchaus auf dem Gottesbegriff des Paulus auf, der seinerseits stark von einer hellenistischen Prägung beeinflusst ist.

Die fleischliche und personelle Manifestation Gottes bildete Paulus über Jesus, den Erlöser, ab. Judentum und Tora waren bei Paulus wichtig; das Maß aller Dinge, um zur Erlösung zu gelangen, war aber der Glaube an den Opfertod Jesu. Die Sünden gegenüber dem jüdischen Gesetz galten nur solange der Mensch noch am Leben war. Nach seinem irdischen Ableben würde der Mensch durch die Erlösung in die Wirklichkeit des Geistes aufgenommen.[105]

 

So verlor das „fleischliche“ Leben an Bedeutung. Dieser Ansatz einer Haltung, in der das körperliche Dasein in den Hintergrund tritt, weist eine hohe Übereinstimmung mit der Stoa auf. Seneca tröstete sein an der Endlichkeit des Lebens verzweifelndes Publikum mit dem Hinweis, das Leben sei lange genug, wenn man seine Zeit nur sinnvoll nutze. Er wies damit auf die Kostbarkeit der diesseitigen Lebenszeit hin. Seneca führte damit die stoische Tradition fort, die sich nach ihm auch bei späteren Schriftstellern wie Epiktet und Marc Aurel herauslesen lässt. Der Unterschied zwischen Stoa und Christentum bestand nicht in der Ansicht zum körperlichen Dasein, sondern in der Ansicht zu dessen irdischen Begrenztheit und dem Verständnis von Erlösung. Die christliche Erlösung erfolgte im jenseitigen Leben nach dem Tod, stoische Philosophen hofften auf die irdische Erlösung durch die Eudaimonia durch ein tugendhaftes Leben. Willy Hochkeppel drückt es sehr treffend aus, wenn er schreibt: „Sokrates starb für die Erkenntnis, Jesus für den Glauben.[106] Das Judentum betrachtete die Gesetze Gottes als höchste Instanz, Philosophen der Klassik wie Platon die Gemeinschaft der Polis, Stoiker den Logos. Paulus nahm Elemente aus allen Strömungen auf und formte daraus seine Ethik.

 

Aus dieser das körperliche Leben geringschätzenden Einstellung folgte in konsequenter Manier die Forderung nach Verzicht. Der Aufruf zu Mäßigung bei Paulus entsprach sehr einem stoischen Verständnis des Lebenswandels. Vielerorts finden sich in den Paulusbriefen Passagen, die aus der Feder eines stoischen Philosophen stammen könnten. Paulus lebte auch selbst sehr bescheiden. Er verzichtete auf Zuwendungen der christlichen Gemeinden und verdingte sich auf seinen Missionsreisen auf den Beruf des Zeltmachers, um sich seinen Lebensunterhalt zu ermöglichen.

Körperlichen Genüssen verschlossen sich sowohl Paulus wie auch die Stoiker. Genügsamkeit und Bedürfnislosigkeit galten als tugendhaft, auf Gelage und sexuelle Ausschweifungen sollte der Mensch verzichten. Diese Handlungsanweisungen waren nur die logische Konsequenz eines Menschenbildes, das dem Geistigen eindeutig den Vorzug vor dem Körperlichen einräumte. Warum sollte man sich körperlich verwöhnen, wenn der Körper ohnehin wertlos war? Durchaus bemerkenswert ist die Übereinstimmung zwischen Stoa und Paulus in der Haltung gegenüber der Sexualität. Beiden scheint bewusst gewesen zu sein, dass man vollkommene Enthaltung als officia perfecta zwar erwähnen, nicht aber realistisch von seinem Publikum einfordern konnte. Es war wohl bekannt, dass ein Verzicht auf übermäßiges Essen und Trinken leichter einzuhalten war als dauerhafte sexuelle Entsagung.

Ähnlich wie bei der Erlösung, war es auch bei der Askese die Vorstellung vom Leben nach dem Tod, der drohenden Verdammnis und der Unsterblichkeit der Seele, die Christentum und Stoa trennten. Während Stoiker einen irdischen Zustand der Erfüllung und Zufriedenheit im Diesseits erreichen wollten, trachteten Christen danach einen Platz im jenseitigen himmlischen Reich zu erlangen.[107]

 

Wurde also die Theologie des Paulus von der Stoa beeinflusst? Sehr vieles spricht dafür. Seneca, einer der einflussreichsten Denker seiner Zeit, und Paulus weisen bei ihrer Definition des göttlichen Weltenlenkers große Ähnlichkeit auf. In ethischer Hinsicht wirkt es, als wäre Paulus stärker von der strengeren Alten Stoa angezogen gewesen. Der dogmatische Stil Epiktets, in dem die Aufforderungen zum tugendhaften Leben formuliert werden, findet sich meiner Meinung nach bereits in den Paulusbriefen wieder. Ob Paulus wissentlich stoisches Gedankengut in seine Schriften einfließen ließ, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Betrachtet man die Wirkmacht, die die Stoa im 1. Jahrhundert erreicht hatte, scheint es aber zumindest sehr wahrscheinlich, dass Paulus, der in der hellenistischen Welt aufwuchs, davon zumindest unterbewusst beeinflusst war. In Paulus’ Herkunft und der damit einhergehenden Erziehung lag der entscheidende Unterschied zu Petrus und Jakobus, den wichtigsten Vertretern der Jerusalemer Urgemeinde. Dieser Unterschied, durch den neue Impulse vom Diasporajudentum direkt nach Jerusalem gelangten, bestimmte die Entwicklung des Christentums.

[1] Willy Hochkeppel, War Epikur ein Epikureer. Aktuelle Weisheitslehren der Antike, München 1984, S. 39.

[2] Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, S. 117 – 127.

[3] Wolfgang Fenske, Paulus lesen und verstehen. Ein Leitfaden zur Biographie und Theologie des Apostels, 2003, S. 17.

[4] Fenske, Paulus lesen und verstehen, Stuttgart 2003, S. 20 – 25.

[5] Eva Ebel, Das Leben des Paulus, in: Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe2, Oda Wischmeyer, (Hrsg.), Tübingen/Basel 2006, S. 105 – 118, hier S. 111 – 113.

[6] Schnelle, Paulus. Leben und Denken, S. 46.

[7] Eva-Marie Becker, Die Person des Paulus, in: Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe2, Oda Wischmeier (Hrsg.), Tübingen/Basel 2006, S. 129 – 141, hier S. 130 – 132.

[8] Apg 8,1a – 8,3.

[9] Fenske, Paulus lesen und verstehen, S. 26.

[10] Schnelle, Paulus, S. 74.

[11] Gal 1,14.

[12] Ebel, Das Leben des Paulus, hier S. 109.

[13] Apg 11,26.

[14] Apg 13,15.

[15] Schnelle, Paulus, S. 106 – 113.

[16] Eva Ebel, Das Missionswerk des Paulus, in: Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe2, Oda Wischmeyer, (Hrsg.), Tübingen/Basel 2006, S. 119 – 128, hier S. 120 – 127.

[17] Hartmut Leppin, Die Frühen Christen. Von den Anfängen bis Constantin, München 20213, S. 240 – 243.

[18] Fenske, Paulus lesen und verstehen, S. 20 – 25.

[19] Schnelle, Paulus, S. 117 – 127.

[20] Ebel, Das Leben des Paulus, hier S. 109.

[21] Schnelle, Paulus, S. 399 – 405.

[22] Fenske, Paulus lesen und verstehen, S. 33 – 42.

[23] Bernd Heininger, Die religiöse Umwelt des Paulus, in: Paulus: Leben – Umwelt – Werk – Briefe2, Oda Wischmeyer (Hrsg.), Tübingen/Basel 2006, S. 66 – 104, hier S. 66 – 74.

[24] Ebd., hier S. 85 – 88.

[25] Leppin, Die Frühen Christen, S. 87.

[26] Hochkeppel, War Epikur ein Epikureer, S. 175.

[27] Leppin, Die Frühen Christen, S. 87.

[28] Schnelle, Paulus, S. 43.

[29] Schnelle, Paulus, 2003, S. 138 – 140.

[30] Ebd., hier S. 117 – 127.

[31] Lena Strauß, Das Fremdenbild bei Flavius Josephus. Fremde Politik, Literatur und Religion in den Schriften des jüdischen Historikers, Oldenburg 2009, S. 16-17.

[32] Tac. Hist. V 3.

[33] Ios. Bell. Iud. 2, 163.

[34] Wolfgang Zwickel, Religiöse Gruppierungen in neutestamentlicher Zeit, in: Jürgen Schefzky/Wolfgang Zwickel (Hrsg.), Judäa und Jerusalem – Leben in Römischer Zeit, Stuttgart 2010, S. 74 – 79, hier S. 78.

[35] Per Bilde, Der Konflikt zwischen Gaius Caligula und den Juden – über die Aufstellung einer Kaiserstatue im Tempel, in: Anne Lykke/Friedrich T. Schipper (Hrsg.), Kult und Macht: Religion und Herrschaft im syro-palästinensischen Raum – Studien zu ihrer Wechselbeziehung in hellenistisch-römischer Zeit, Tübingen 2011, Seite 8 – 49, hier S. 8.

[36] Wolfgang Weinkauf, Die Stoa, Augsburg 1994, S. 10.

[37] Weinkauf, Die Stoa, S. 18.

[38] Ebd., hier S. 19 – 21.

[39] Hochkeppel, War Epikur ein Epikureer, S. 172.

[40] Weinkauf, S. 21 – 23.

[41] Ebd., hier S. 25 – 41.

[42] Leppin, Die Frühen Christen, S. 174 – 176.

[43] Dtn 6,4b.

[44] 1Kor 8,6a.

[45] Röm 11,36a.

[46] Röm 1,20.

[47] Röm 1,3 – 1,5.

[48] Röm 3,25 – 3,31.

[49] 1 Kor 2,10 – 2,13.

[50] Röm 7,6.

[51] Röm 1,28 – 1,30.

[52] Plat. Rep. IV 427d – 432b.

[53] Hochkeppel, War Epikur ein Epikureer, S. 1777 – 181.

[54] Maximilian Forschner, Die Philosophie der Stoa, Darmstadt 2018, S. 118 – 122.

[55] Ebd., hier S. 145 – 148.

[56] Seneca, Von der göttlichen Vorsehung, in: Das große Buch vom glücklichen Leben. Gesammelte Werke, Köln, 2014, S. 7 – 28, hier S. 7 – 8.

[57] Epiktet, Handbüchlein der Moral, Kapitel 31.

[58] Weinkauf, Die Stoa, S. 113 – 115.

[59] Ebd., hier S. 119.

[60] Epiktet, Handbüchlein der Moral, Kapitel 11.

[61] Seneca, Von der göttlichen Vorsehung, hier S. 7 – 10.

[62] Schnelle, Paulus, S. 117 – 127.

[63] 1 Kor 7,20 – 7,24.

[64] Röm 13,2 – 13,7.

[65] Marion Giebel, Seneca, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 14 – 15.

[66] Annekatrin Puhle, Persona. Zur Ethik des Panaitios, Frankfurt/Bern/New York/Paris 1987, S. 119.

[67] Forschner, Die Philosophie der Stoa, S. 134.

[68] Puhle, Persona, S. 116.

[69] Seneca, Von der göttlichen Vorsehung, S. 7 – 9.

[70] Ebd., hier S. 23.

[71] Ebd., hier S. 25 – 28.

[72] Epiktet, Handbüchlein der Moral, Kapitel 9.

[73] Epiktet, Handbüchlein der Moral, Kapitel 17.

[74] Röm 7,18.

[75] Röm 8,5 – 8,7.

[76] Gal 5,19 – 5,23.

[77] Röm 7,25.

[78] Röm 13,13 – 13,14.

[79] Epiktet, Handbüchlein der Moral, Kapitel 10.

[80] Leppin, Die Frühen Christen, S. 225.

[81] Puhle, Persona, S. 105.

[82] Epikur, Brief an Menoikus, in: Klassische Texte der Philosophie. Ein Lesebuch, Jonas Pfister (Hrsg.), Stuttgart 2014, S. 32 – 35.

[83] Seneca, Aus den moralischen Briefen an Lucilius, in: Das große Buch vom glücklichen Leben. Gesammelte Werke, Köln, 2014, S. 351 – 700, hier S. 369.

[84] 1 Kor 6,18.

[85] Röm 1,26 – 1,27.

[86] 1 Kor 7,1 – 7,7.

[87] Puhle, Persona, S. 5.

[88] Schnelle, Paulus, S. 226.

[89] Epiktet, Handbüchlein der Moral, Kapitel 33.

[90] Röm 8,16 – 8,17.

[91] Leppin, Die Frühen Christen, S. 68 – 70.

[92] Gal 3,28.

[93] Röm 1,14.

[94] Röm 2,9 – 2,12

[95] Röm 2,19 – 2,28.

[96] Leppin, Die Frühen Christen, S. 56 – 57.

[97] Lena Strauß, Das Fremdenbild bei Flavius Josephus. Fremde Politik, Literatur und Religion in den Schriften des jüdischen Historikers, Oldenburg 2009, S. 16-17.

[98] Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, S. 144 – 147.

[99] Dietrich-Alex Koch, Die Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 2013.

[100] Maximilian Forschner, Die Philosophie der Stoa, Darmstadt 2018, S. 125.

[101] Röm 1,18.

[102] Röm 1,20.

[103] Cic. Off. I. 50 – 52.

[104] Joh 1,1.

[105] Röm 7,1 – 7,6.

[106] Willy Hochkeppel, War Epikur ein Epikureer. Aktuelle Weisheitslehren der Antike, München 1984, S. 39.

[107] Schnelle, Paulus, S. 226.