Einleitung
Als eine Handvoll junger, zionistischer Siedler im Jahr 1910 in der Nähe des See Genezareth eine landwirtschaftliche Siedlung gründete, war ihnen wohl nicht bewusst welch ein einschneidendes historisches Ereignis für den noch zu gründenden Staat Israel das sein würde. Degania, so der Name dieser Siedlung, sollte der erste von vielen Kibbuzim (Mehrzahl von Kibbuz) sein, die in der Besiedlung, Landesverteidigung und Staatsgründung Israels eine unersetzliche Rolle spielen sollten. Die Lebensform des Kibbuz prägte viele wichtige Persönlichkeiten aus Politik und Militärwesen Israels und hatte dadurch großen Einfluss auf den Staat. Ebenso prägend aber war der Kibbuz für das Selbstbild und das Selbstverständnis der Israelis sowie auch für das Bild im Ausland. Nichts weniger als einen neuen Menschen zu erschaffen war das Ziel. Viele junge Europäer machten sich nach dem 2. Weltkrieg auf, um im Heiligen Land das sozialistische Experiment selbst zu erleben. Vor allem auf die Linke macht die Idee des gelebten Sozialismus mächtig Eindruck.
Auf den ersten Blick ist die Idee der Kibbuzim sehr simpel und wirkt tatsächlich wie eine sozialistische Utopie par excellence. Wer aber in die Geschichte dieser Institution eintaucht, findet eine Reihe von Ideen, die über gelebten Sozialismus hinausgehen beziehungsweise dem sozialistischen Gedanken wie wir ihn im Sinne von Gleichheit und grenzenloser Solidarität kennen durchaus auch widersprechen.
In dieser Arbeit möchte ich auf die Ideengeschichte des Kibbuz und der Denker die dahinterstehen eingehen sowie auch die Veränderung dieser Ideen im Laufe der Zeit betrachten. Nach einer kurzen Einleitung und einiger grundsätzlichen Feststellungen, möchte ich Gedanken der wichtigsten zionistischen Denker ausführen, die sich im Kibbuz manifestieren beziehungsweise auch Gedanken außerhalb des Zionismus aufgreifen, die für die Kibbuzim bis heute eine wichtige Rolle spielen. Was beeinflusste die Pioniere und wie manifestierten sich diese Ideen in den Kibbuzim? In all seinem Idealismus wie auch in seinen Widersprüchlichkeiten kann man die Geschichte des Zionismus und des jungen Staates Israel entlang der Ideen, die sich im Kibbuz zeigen, zwischen Anspruch und Wirklichkeit in einem spannenden Gang durch große Gedanken nachvollziehen
Grundsätzliches zum Kibbuz
Die Lebens- und Wirtschaftsweise des Kibbuz kann unter dem Motto zusammengefasst werden: Jeder gibt was er kann, jeder erhält was er braucht. Ein Kibbuz ist eine selbstverwaltete, landwirtschaftliche Siedlungseinheit. Der bedeutende Unterschied zu sowjetischen Kolchosen ist die Freiwilligkeit. Die Kibbuzniks (Bewohner) leisten innerhalb der Gemeinschaft Arbeit und erhalten dafür als Gegenleistung keine Bezahlung, sondern die Deckung des Lebensbedarfs. Es gibt in jüngerer Zeit auch Kibbuzniks die außerhalb der Gemeinschaft einer Erwerbsarbeit nachgehen, ihren Lohn aber in die Gemeinschaft in der sie leben einbringen. Die Bewohner eines Kibbuz müssen sich weder um Wohnung, Verpflegung, Bildungsausgaben für Kinder oder sonstige Ausgaben kümmern. Bis zu einem gewissen Grad sind auch Hobbies und Dinge wie Auslandsreisen abgedeckt. Kibbuzim sind basisdemokratisch organisiert und werden über die Mitgliederversammlung und verschiedene darüber gewählte Organe verwaltet. Ein allgemein gültiges Statut für alle Siedlungen gibt es nicht, die Kibbuz-Unionen beeinflussen ihre Mitgliedsbetriebe aber. In den letzten Jahrzehnten gab es einige Änderungen. Der Kibbuz kümmert sich um die Kindererziehung vom Kleinkindalter an über Kinderhäuser, auch wenn auch Übernachtung und somit auch Erziehung innerhalb der eigenen Familie in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben. Waren Kibbuzim einst reine Landwirtschaftskommunen, sind sie mittlerweile auch in der Industrie tätig, teils auch unter Zuhilfenahme von Lohnarbeitern.
Neben der landwirtschaftlichen Funktion die sie ausübten, mussten sich die Siedler auch gegen ihre palästinensischen Nachbarn und Beduinen verteidigen. Außerdem stellten viele Kibbuzim die Sicherung der erworbenen Gebiete dar. In den abgelegenen Gebieten sicherten die Siedler die Kontrolle über diese Landstriche. Untergrundorganisationen wie die Hagana nützten die Kibbuzim als Lager und Stützpunkte.
Von Pionieren, Revolution, und Neuen Menschen
Die Siedler, die 1910 am südlichen Ende des See Genezareth den ersten Kibbuz Degania gründeten, waren zu einem großen Teil mit der 2. Alija aus Osteuropa nach Palästina gekommen. Geflohen vor dem Antisemitismus Russlands und Europas waren diese oft mittellosen Männer und Frauen keineswegs nur vom zionistischen Gedanken, sondern durchaus auch darüberhinausgehend vom Wunsch nach einer gänzlich neuen Welt geprägt. Der Sozialismus, der sich auch bei vielen zionistischen Denkern in Russland und Europa großer Beliebtheit erfreute, war eine starke Triebfeder der jüdischen Siedler. Dabei geht der Gedanke so weit, dass durch die Arbeit in der Landwirtschaft ein „Neuer Mensch“ geschaffen werden soll.
Dass sie bei der Besiedlung keineswegs wie es die zionistische Parole („Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“) verheißt auf ein Land ohne Volk stießen, bedeutete für die Siedlergemeinschaften die sich nach und nach bildeten, dass Traktor und Gewehr gleichermaßen zur Ausrüstung des Kibbuzniks gehörten. Von Anfang an war es Aufgabe der Kibbuzniks das Land nicht nur zu bestellen, sondern es auch gegen die Nachbarstaaten zu sichern. Dieser Pioniergeist sorgte nicht nur innerhalb Israels für Furore, sondern war auch in Westeuropa lange Zeit das Sinnbild für Revolution. Vor allem unter jungen Linken galt der Kibbuz als Sehnsuchtsort. Die Mischung aus Sozialismus und revolutionärem Geist war in den 1960er Jahren im Trend, Figuren wie Che Guevara und Mao waren in der Popkultur angekommen. David Ben Gurion, der 1948 den Staat Israel ausrief und anschließend zum Gesicht des jüdischen Widerstands im Unabhängigkeitskriegs wurde, verbrachte einige Jahre seines Lebens im Kibbuz Sde Boker mitten in der Wüste Negev in sehr einfachen Verhältnissen. In David Ben Gurion spiegeln sich Sozialismus und Nationalismus ebenso wieder wie der Pioniergeist, durch den das Land Israel von den Kibbuzniks in harter Arbeit gezähmt werden konnte. Dieser Pioniergeist halutziut, durch den sogar die unwirtliche Wüste Negev gezähmt werden konnte, ist für Ben Gurion das Rückgrat der israelischen Gesellschaft. Viele junge Idealisten verbrachten den Sommer als freiwillige Helfer in einem der zahlreichen Kibbuzim, ab 1967 gab es sogar Agenturen die sich um die Rekrutierung und Zuteilung der Volunteers kümmerten. Die Europäer und Amerikaner beeinflussten die Isaelis mindestens ebenso wie es umgekehrt der Fall war.
Bemerkenswert ist die scheinbare Leichtigkeit, mit der zionistische Denker von Anfang an nationalistische Ideen mit dem Sozialismus verknüpfen. Während sich über den Kommunismus von Karl Marx der Gedanke des internationalen Klassenkampfs des Proletariats bis in die UDSSR ausbreiten konnte und die Sowjets in Moskau sich als die Antreiber einer internationalen Bewegung sahen, war die jüdische Arbeiterbewegung über den Zionismus immer an die Idee des Staats gebunden. Das manifestierte sich auch in der Kibbuzbewegung, die ein wichtiger Baustein vor und nach der Staatsgründung Israels war.
Diese beiden Elemente, Sozialismus und Zionismus, sind es auch, über die der Kibbuz häufig in der Literatur beschrieben wird. Mindestens ebenso bemerkenswert ist auch die fast schon freundschaftliche, lockere Verbindung die zum Kapitalismus von Anfang an besteht und sich im Laufe der Zeit in der Entwicklung der Kibbuzbewegung mühelos fortsetzt. Aus diesem wilden Mix an Ideen entstanden Gemeinschaften, die Utopie und Realität miteinander verknüpfen. Während viele sozialistische Experimente des 20. Jahrhunderts an verschiedensten Faktoren und an der eigenen Doktrin zerschellt sind, ist es vielleicht gerade die Flexibilität, die die Gegensätze und Widersprüchlichkeiten dem Kibbuz verleihen, die noch heute viele Menschen in ganz Israel an die Ideale und die Werte dieser Kommunen glauben lassen.
Was steht hinter der Idee des Kibbuz?
Im folgenden Kapitel möchte ich die Ideologien und Schriften, die sich in der Idee der Kibbuzim vereinigen und auch bei der Landnahme und Gründung des Staates Israel eine Rolle spielten, näher ausführen.
Der Neue Mensch
Eines der Merkmale der Siedler in Palästina im Allgemeinen und der Kibbuzbewegung im Speziellen war die Fokussierung auf die körperliche Arbeit in der Landwirtschaft. Für viele Diasporajuden war diese geforderte Körperlichkeit ein Novum. Physische Arbeit war dabei nicht nur das Mittel um die Landwirtschaft zu betreiben, sondern für Zionisten auch ein Ausbruch aus der alten Welt, sozusagen ein Neuanfang unter geänderten Spielregeln. Zurückgelassen werden sollte der unterdrückte Jude aus dem Ghetto, auferstehen sollte ein Volk aus Neuen Menschen, die ihre Rolle in der Welt und im Arbeitsleben auch gänzlich anders definieren. In Europa war sowohl das Fremd- wie auch das Selbstbild der Juden oft über die antisemitische Betrachtung des Juden als degenerierter Rasse die Norm. Viele Juden erkannten sich im von Europäern entworfenen Bild tatsächlich wieder, was zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wurde. Je mehr die „Unkörperlichkeit“ der Juden zum Diskurs wurde, desto stärker charakterisierten sich Juden selbst über dieses Merkmal. Aus heutiger Sicht gelesen wurden Juden in ihren kritischen Äußerungen über das Jüdische selbst zu Antisemiten.
Einer dieser Lebensweise des jüdischen Volks sehr kritisch gegenüberstehenden Denker war Max Nordau. Nordau war ein wichtiger Weggefährte Theodor Herzls. Wie Herzl hatte auch er sich in Westeuropa assimiliert. Vom typisch jüdischen Leben hatte er sich seit früher Jugend entfernt. Diese Emanzipation, die er für sich selbst vollzogen hatte, wollte er auf das jüdische Volk umlegen, um dem rassistischen Antisemitismus zu entgehen. Während Leo Pinsker in seinem Essay Auto-Emancipation über Gesetze und die spirituelle Entwicklung hin zu mehr Selbstrespekt nachdenkt um ein einheitliches Volk zu gründen, sieht Nordau auch die körperliche Entwicklung als sehr wichtig an. Er wollte das jüdische Volk nicht in seiner gewohnten Form zur Nation werden lassen, ein in jeder Hinsicht Neuer Mensch sollte entstehen.
Nordau war die Abneigung gegen jede körperliche Betätigung und Arbeitsauffassung des jüdischen Volkes ein besonderer Dorn im Auge. Der schwächliche Jude aus dem Ghetto der die Opferrolle nur allzu gerne annahm, war dem assimilierten Juden Nordau ein Grausen. Er sieht in den zionistischen Juden „keine Heloten, sondern vielmehr Spartaner“. Nordau spricht vom Muskeljudentum und möchte über Turnvereine das Verhalten das den Juden in den Ghettos aufgezwungen wurde abwerfen und Stolz, Charakter und Selbstbewusstsein des jüdischen Volkes wieder neu aufbauen. Nordau sieht die jüdische Emanzipation aus einer Logik heraus, die bis auf die Französische Revolution zurückgeht, die allen Menschen, somit auch Juden, dieselben Rechte zugesteht.
Auch die Form in der Juden das Thema Arbeit verstanden, musste sich laut Nordau ändern. In einer Rede am 5. Zionistenkongress plädierte er für ein neues Wirtschaftsleben, das zu einem großen Teil aus Handwerk, Landwirtschaft und Industrie bestehen sollte. Der Talmudjude solle die Studierstube hinter sich lassen und zum Muskeljuden werden. Das Muskeljudentum geht für ihn ebenfalls in die Richtung einer Emanzipation. In der Idee des Kibbuz zeigen sich die von Nordau geforderte Emanzipation und der Stolz auf das eigene Dasein abseits von Ghetto und Schtetl in der Gestalt des heldenhaften Pioniers.
Von der Tatsache der physischen Schwäche spricht auch der Vertreter des religiösen Zionismus Rabbi Kook, der „das Fleisch für ebenso heilig hält wie den Geist.“ Der orthodoxe Jude Kook war dabei das Gegenteil des Atheisten Max Nordau. Doch obwohl er die sozialistisch geprägten, russischen Pioniere als Feinde der jüdischen Tradition sieht, gesteht er ihnen doch zu, dass sie, wenn auch dessen unbewusst, eine heilige Aufgabe mit der Besiedlung von Eretz Israel ausführen. Eine interessante Ansicht zu jüdischen Pionieren hatte auch Vladimir Jabotinsky, der als glühender Nationalist aber auch als Gegner des Sozialismus im Allgemeinen und der Arbeiterpartei im Speziellen galt. Er sah für die Bildung der Nation eine Generation der „Gründer und Erbauer, bereit für Abenteuer und neuer Erfahrungen“. Es bedürfe „junger Menschen, die Pferde reiten, auf Bäume klettern, im Wasser schwimmen, ihre Fäuste gebrauchen und Pistolen abfeuern können“. Mit dieser Beschreibung umreißt Jabotinsky in vielem den Chawerim, der unter der Hochhaltung des von Jabotinsky für schwach empfundenen Sozialismus das Land besiedelte. Die sozialistische Kibbuzidee ohne feste Hierarchien war Jabotinsky, der in vielerlei Hinsicht faschistische die faschistische Ideologie verkörperte, aber in ihrer Gesamtheit ebenso zuwider wie dem orthodoxen Rabbi Kook.
Körperlichkeit ist auch bei Aharon David Gordon, der als einer der Väter der Kibbuzidee gilt, für sein Denken bestimmend. Gordon kam nach einer Karriere als Büroangestellter im Russischen Reich 1904 mit 48 Jahren nach Palästina. Nachdem er auf verschiedenen Landgütern in Judäa gearbeitet hatte, zog er 1912 nach Galiläa und begann 1913 in Degania zu arbeiten, bevor er erneut auf Wanderschaft in Palästina ging um für die Arbeiterbewegung Hapoel Hazair zu schreiben. Erst 1919 zog er permanent in den Kibbuz Degania, wo er bis zu seinem Tod arbeitete. Seine Gedanken lebten über den Jugendverband Gordonia auch nach seinem Tod 1922 weiter und prägten die kommende Generation von Kibbuzim.
Gordons Texte sind von fast messianischem Eifer geprägt. Die Hauptthemen seiner Schriften sind Natur, nationaler Wiedergeburt und Arbeit, die sich im Zusammenspiel ergänzen. Auch Gordon kritisiert die jüdische Einstellung zur Arbeit. Er greift offen den Talmud an der besagt, dass für gläubige Juden die mit der Ausführung des Willens Gottes beschäftigt sind, die Arbeit von anderen erledigt wird. Für Gordon hingegen ist es Arbeit die einen Mann an die Erde seiner Heimat bindet. Kultur ist für Gordon alles, was für das Leben geschaffen wird.Damit gibt er der manuellen Arbeit eine Sonderstellung und hebt sie auf eine neue kulturelle Stufe, die der Kultur der Intellektuellen um nichts nachsteht. Diese Verbindung die Gordon zwischen Kultur, Arbeit und dem Heiligen Land schafft, ist wohl einer der charakteristischsten Gedanken der Ideengeschichte des Kibbuz. Für Gordon ist Arbeit das unumstößliche Gebot, das eine nationale Wiedergeburt ermöglicht.
Der Kibbuz war für Gordon somit ein Abbild dessen, wie er sich Eretz Israel und seine „Neuen Menschen“ fernab von Schtetl und Ghetto vorstellte. Für Gordon war der Landerwerb alleine zu wenig. Es war notwendig, Mühe und Arbeit in das Land zu stecken um wirklich behaupten zu können, es zu besitzen. Kein Mittel scheint dafür besser geeignet zu sein, als die Kibbuzim, die sich unter der spirituellen Leitung der Gordonia rasend schnell in Palästina ausbreiteten.
Die Rückbesinnung auf Körperlichkeit im Judentum und die Kreation eines „Neuen Menschen“ steht bei Nordau und Gordon jeweils im Mittelpunkt, auch wenn der Ansatz des sehr säkularen und pragmatischen Nordau, der dafür vor allem den Sport als Mittel zum Zweck sieht gänzlich anders ist als die oft esoterisch wirkenden Gedanken Gordons, die die manuelle Arbeit in den Mittelpunkt rücken. Beide Denker sind für die Entstehung des neuen Judenbilds, das sich im Kibbuz manifestiert, essentiell.
Sozialismus und Anarchismus
Dieser Neue Mensch den viele Zionisten in Palästina ansiedeln wollten, ist ein bekannter Topos des Sozialismus der Sowjetunion. Leo Trotzki, einer der Väter der Russischen Revolution, war Jude wie auch Karl Marx. Für Diasporajuden als Volk ohne Staat war der marxistische Gedanke der Internationalen, der ein Proletariat ohne nationale Heimat vorsah, ein sehr verlockender Gedanke. Der Jüdische Arbeiterbund stellte wohl auch deshalb im Russischen Zarenreich um die Jahrhundertwende die größte sozialistische Organisation dar.
Die Vernachlässigung des nationalen Gedankens des marxistischen Sozialismus stellt einen Widerspruch zur zionistischen Ausrichtung der Kibbuzim. Ein wichtiger zionistischer Denker der diese beiden Strömungen in seinen Schriften vereinigte, war Ber Borochov. Für ihn war Klassenkampf nicht möglich ohne ein Territorium in dem dieser Klassenkampf stattfinden kann. Laut Borochov bringen natürliche Unterschiede in verschiedenen Ländern, Unterschiede zwischen verschiedenen Menschentypen und Rassen Unterschiede in der Produktion mit sich. Menschen unterscheiden sich in Gesellschaften wie Stämme oder Nationen während innerhalb dieser Gesellschaften die einzelnen Klassen ihren Platz finden. So schaffte er es, zwischen der vertikalen Sicht der Klassen auch eine horizontale Sicht in sein Denken einzufügen, die verschiedene sonstige soziale Unterschiede wie Nationen mit in die Betrachtung einbezieht. Für die Arbeiterpartei Poale Zion, später Mapai, die in Israel bis 1977 regierte und die politische Kraft hinter den Kibbuzim bildete, war dieser Gedankengang wegweisend. Auch für die Entwicklung und Funktion der Kibbuzim innerhalb Israels war diese Verbindung zwischen Territorium und Sozialismus wichtig, die Borochov in seinen Schriften begründete.
Auch Aharon David Gordon kann als Sozialist gesehen werden in seiner Ablehnung vom Gedanken, dass ein Mensch von der Arbeit anderer Menschen leben soll. Allerdings war seine Grundausrichtung nicht speziell klassenkämpferisch. Die Gründer der ersten Kibbuzim selbst richteten ihre Lebens- und Wirtschaftsweise ebenfalls nicht nach dem Sozialismus von Karl Marx aus, sondern adoptierten das kommunistisch-kollektivistische Gedankengut das Anarchismus, gegenteilig dem staatlichen Sozialismus mit zentralistischer Steuerung wie er in Russland von Lenin und seinen Nachfolgern praktiziert wurde.
Ein wichtiges Element ist dabei die individuelle Freiheit und die Entfaltung des Einzelnen wie sie Peter Kropotkin vertrat. Kropotkin war ein russischer Hochadliger, der wegen seiner Mitgliedschaft in anarchistischen und sozialistischen Gesellschaften nach einer Haftstrafe aus dem Russischen Reich flüchten musste. Er war ein erbitterter Gegner Lenins und ein prinzipieller Gegner des Prinzips der Herrschaft des Menschen über andere Menschen. Kropotkin vertrat den Standpunkt, dass der Kommunismus nur einer Gemeinschaft von völlig freien Individuen, verbunden durch gemeinsamen Besitz und Produktion zugänglich sei. Zentralistische Ordnung und gleichzeitige „Abschaffung von freien Verträgen und nichtstaatlichen Verbänden wie Dorfgemeinschaften, Gilden, Gesellenverbindungen und Bruderschaften“ sieht Kropotkin als die Feinde des freien Zusammenlebens. Die Organisation einer kommunistischen Gemeinschaft sah er als ein Produkt aller Mitglieder, nicht als das Ergebnis einer Obrigkeit wie sie im Staatssozialismus geplant war.
Dem zugrunde liegt die Ansicht des britischen Priesters William Godwin, der den Menschen als weder gut noch böse betrachtete. Durch richtige und freie Erziehung von Kindern ohne schädliche Einflüsse der Umwelt könne man eine solche Gesellschaft errichten. Die Kindererziehung war laut Godwin der einzige Bereich, in dem Zwang nicht gänzlich auszuschließen sei. Ansonsten sei Herrschaft gänzlich abzulehnen, das einzige Mittel zur Entscheidungsfindung in politischen Agenden innerhalb der Gemeinschaft ist die Diskussion. Auf Autonomie und Freiheit setzte auch der anarchistische Publizist Pierre-Joseph Proudhon, der in seinem Werk „Was ist das Eigentum?“ seine eigene Frage mit „Eigentum ist Diebstahl beantwortete. Das Erbrecht verneinte er ebenso wie den Zentralismus.
Die Schriften dieser anarchistischen Denker beschreiben viele der Gedanken, die in den Kibbuzim in die Praxis umgesetzt wurden und teilweise noch immer werden, sehr genau. Das Fehlen von einheitlichen Statuten, die Erziehung in den Kinderhäusern, der Verzicht auf Eigentum, die basisdemokratische Entscheidungsfindung mittels Diskussion und die Autonomie der einzelnen Gemeinschaften sind Merkmale der Kibbuzim. Wenn Jean-Pierre Joseph 1852 also notiert, dass Anarchie ein „unerreichbares Ideal“ darstellt, liegt er zumindest in Teilen falsch.
Gleichheit und Mäßigung
In Palästina angekommen bot sich den idealistischen, sozialistischen Pionieren aus Russland und Europa des 19. Jahrhunderts eine explosive Gemengelage an Stimmungen, Meinungen und Menschen. Die Flucht aus der alten, wenig geliebten und dank dem immer stärker aufkeimenden Antisemitismus gefährlichen Heimat, war für manchen Ankömmling wohl als eine weniger gute Idee erscheinen als im Vorfeld zu ahnen war. Für viele Juden, darunter auch einflussreiche Denker wie Ahad Haam, war das traditionelle Judentum für das Funktionierten von Staat und Gesellschaft noch immer die Basis. Der säkulare Materialismus der neuangekommenen Sozialisten war für einen großen Teil der jüdischen Gemeinschaft in Palästina kein realistischer Weg um ein neues Dasein zu schaffen. Für viele der emanzipierten und progressiven Immigranten der ersten und zweiten Alija hingegen waren die orthodoxen Gemeinschaften allerdings keine Option um Anschluss an eine Gemeinschaft zu finden. Einem Kibbuz beizutreten, in dem Gleichheit und soziale Sicherheit zu den Grundpfeilern zählten, war wohl für viele verlockend. Die Idee, federführend in einer Gemeinschaft mitzuwirken, in der Individualismus und Freiheit gegenüber dem traditionellen Leben den Vorzug genossen, muss in dieser oft feindseligen Umgebung mit vielen Herausforderungen und großer Unsicherheit eine starke Anziehungskraft gehabt haben. Es sollten die Ideale des Kommunismus Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität ohne den Unterdrückungsapparat der Bolschewiki umgesetzt werden.
Für Aharon David Gordon war Gleichheit ein wichtiges Thema. Für ihn war es eine Pflicht, dass jeder jede Arbeit zu verrichten habe, von der niedrigsten bis zur höchsten. Jeder sollte wissen, was ein Arbeiter denkt und fühlt. Dieses Gleichheitsprinzip galt sehr lange Zeit für den agrarischen Teil der Arbeit, auf dessen Basis die ersten Kibbuzim als landwirtschaftliche Kommunen gegründet wurden. Mit der späteren Industrialisierung, der Möglichkeit außerhalb des Kibbuz zu arbeiten und der steigenden Anzahl an Tätigkeiten wie dem Tourismus denen man sich mittlerweile widmet, hat das Gleichheitsprinzip zumindest nach der Art der Tätigkeit eine Änderung erfahren. Im Sinne der Entlohnung und des Konsums von Waren und Dienstleistungen gilt in vielen Kibbuzim noch immer das Gleichheitsprinzip, auch wenn sich hier seit den 1990er Jahren die Diskussionen um dieses Thema häufen. Was dem Gleichheitsprinzip zusetzt, scheint steigender Wohlstand zu sein.
Gleichheit wird im Kibbuz auch nach dem Prinzip der Mäßigung erreicht. Auch dieser Gedanke geht auf Gordon zurück. Wie Aharon David Gordon träumte auch Theodor Herzl von einer gänzlich neuen und egalitären Gesellschaft, in der Juden ihre nationale Heimstätte finden. Während Herzl allerdings in seinem Roman „Altneuland“ eine für damalige Zeit futuristische Utopie beschreibt, sieht Gordon einen anderen Weg. Anstatt moderner Technik die das Leben so angenehm wie möglich machen soll, will Gordon das Verhältnis zwischen Menschen und Natur wiederherstellen, auch wenn dies bedeutet dafür auf Luxus zu verzichten. Der Neue Mensch sollte durch Verzicht, nicht durch technischen Fortschritt zu einem tugendhaften und guten Leben in Palästina gelangen. Dabei ist Gordon kein verbissener Asket, er sieht den Verzicht nicht als Selbstzweck. Der Verzicht ist aber laut Gordon notwendig, um aus einem Leben im inneren Gefängnis („Galut“) auszubrechen. Dieser Ausbruch ist notwendig, um eine echte Wiedergeburt in Palästina zu erreichen. Auch dieser Gedanke des Verzichts ist prägend für den Lebensstil im Kibbuz, der von seinen Bewohnern nicht totale Selbstaufgabe verlangt, sondern Mäßigung um dadurch Gleichheit für alle Mitglieder der Gemeinschaft zu erlangen. Kibbuzniks leben bis heute nach dieser Ideologie der individuellen Mäßigung zum Wohle der Gemeinschaft.
Der Gedanke der höheren Lebensfreude in ganzheitlicher Betrachtung durch Mäßigung ist nicht neu. Schon die Anhänger Epikurs von Samos im 3. Jahrhundert vor Christus, der als Philosoph der Lust und Hedonist galt, waren Anhänger einer Lebensweise, in dem gezielter Verzicht dem Gesamtwohl eines Menschen beitrug. Dabei geht es nicht darum prinzipiell auf alles zu verzichten, sondern abzuwägen ob eine Sache kurzfristig Genuss und Freude, langfristig aber Leid und Unzufriedenheit schafft. Wer konsequent nach diesem „hedonistischen Kalkül“ lebt, verzichtet wohl auf den Massenkonsum der dem Kapitalismus zu Grunde liegt im Wissen darum, welchen Preis diese Lebensweise in Form von Zeitmangel, Überstunden und Stress nach sich zieht. Diesem Prinzip folgen auch überzeugte Kibbuzniks. Noch heute ist der gemäßigte Luxus mit Bedacht einem großen Teil der Kibbuzniks ein höheres Gut als übertriebener Konsum.
Erziehung und Familie
Ein wichtiger Punkt in der Kibbuzbewegung war auch die Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Durch die Kinderhäuser und die Erziehung der Kinder über Pädagogen anstatt durch die klassische kleinbürgerliche Familie konnten auch Frauen Berufe und Tätigkeiten innerhalb der Gemeinschaft übernehmen. In den 1960er Jahren, als das Thema der weiblichen Emanzipation in Europa und den USA immer mehr in den Fokus rückte, übte die Kibbuzbewegung als stilisiertes Gegenmodell zum westlichen Lebensstil, in dem Männer alleine die Familie erhielten und die Frauen für die Kindererziehung zuständig waren, eine große Anziehung auf viele Linke aus. Frauen waren gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft inklusive aller Rechte und Pflichten, und das als in den meisten Staaten Europas von Gleichberechtigung, ganz zu schweigen von Mitbestimmung, noch keine Spur zu finden war. Das Modell der Kleinfamilie war unter Kibbuzniks lange Zeit als allzu kleinbürgerlich verpönt. Der Kibbuz als revolutionäres Kontra zum Spießertum über die kommunale Lebensart zu Lasten der Familie konnte sich lange halten, ist mittlerweile aber nicht mehr die unumstrittene Norm.
Die Arbeitskraft der Frau war natürlich wichtig, ebenso die sozialistische Erzählung der Gleichberechtigung. Die Übernahme der Erziehung hatte wohl aber auch sehr profane Gründe. Die Kibbuzbewegung erkannte sehr früh, dass die Kindererziehung am Weg zum Neuen Menschen ein sehr wichtiger Baustein war. Über die Jugendorganisation Gordonia wurden junge Menschen mit den Grundsätzen des Lebens als Kibbuznik früh bekanntgemacht.
Die jüdischen Pioniere werden aber auch außerhalb der Kibbuzim in der israelischen Erziehung noch immer glorifiziert. Ben Gurion und seine sozialistische Mapai legten den Grundstein dafür, dass die jüdische Landnahme Palästinas seit 1882 in der offiziellen Historiographie ins richtige Licht gerückt wird. Über die Jugendorganisation Haschomer Hatzair der Arbeiterpartei wurden sowohl in Israel wie auch in der Diaspora junge Menschen mit der Verbindung von Sozialismus und Zionismus bekanntgemacht. Das erklärte Ziel dieser Jugendbewegung war es, neue Mitglieder für das Leben im Kibbuz anzuwerben.
Dieser Gedanke war nicht neu. Ahad Haam erkannte ebenfalls schon sehr früh, wie wichtig Bildung im Sinne einer Gemeinschaft ist, um diese Gemeinschaft überhaupt bilden zu können. Für ihn war es wichtig, die Verbindung zwischen den Diasporajuden und den Juden Palästinas zu erhalten. Landnahme allein war für ihn zu wenig. Für Ahad Haam ist die nationale Kultur auch eine Frage der Erziehung und Bildung. Die nationale Agenda muss dem Individuum vor Augen geführt werden von jungen Jahren an, damit es sich als Erwachsener für die Sache einsetzen kann. Das Leben als jüdische Nation in der Diaspora kann also nur funktionieren, wenn die Erziehung und Ausbildung auch jüdisch geprägt sind.
Dieses System, ähnlich einer Meistererzählung, nutzten Kibbuzniks und der Staat Israel gleichermaßen erfolgreich. Dabei war Ahad Haam keineswegs ein Anhänger der sozialistischen Idee unter der sich die Ankömmlinge des Land aneigneten. Das pragmatische Vorgehen der Siedler gemäß dem politischen Zionismus seines Gegners Theodor Herzl war ihm ebenso wie die Ablehnung des traditionellen Judentums ein Grauen. Am Ende waren es aber genau diese sozialistischen Siedler, die für die Besiedlung von Eretz Israel verantwortlich waren.
Kapitalismus
Während Sozialisten in vielen Gesellschaften Europas der Klassenkampf als wichtigstes Merkmal den Klassenkampf auf ihre Fahnen hefteten und den Kapitalismus und die Gesellschaftsordnung die er hervorbrachte vernichten wollten, arrangierten sich die beiden Geistesströmungen in Palästina. Für Kritiker sind die Kibbuzim mit der Entwicklung hin zu Lohnarbeit und Industrie ohne sich in das normale Entlohnungsschema anzupassen sehr wohl aber das Preisschema der kapitalistischen Makroökonomie anzuwenden gar die Vertreter eines „kollektiven Kapitalismus“.
Einer der ersten Käufer von Land im 19. Jahrhundert war der französische Jude Baron Edmund de Rothschild, der das erworbene Land in Größe von 27.500 Hektar der Jewish Colonizatan Agency JCA unter der Leitung von Baron Maurice de Hirsch. Die Jewish Colonization Agency war 1893 gegründet worden, 1898 folgte die Jüdische Kolonial-Treuhand-Gesellschaft, 1901 wurde der Jüdische Nationalfonds gegründet und 1902 folgte die Anglo Palestine Bank. Ziel war es, möglichst viele Juden nach Palästina zu bringen, was ohne die Unterstützung von Kapitalisten wie Rothschild wohl unmöglich gewesen wäre.
Der politische Zionismus Herzls hatte sich als Ziel auf Basis eines alten Gedankens von Yehuda Hai Alkalai durchgesetzt auf Kosten Ahad Haams, der vor der Besiedlung die Bildung einer nationalen Identität forderte. Klar deklariertes Ziel war es nun die Bildung eines Territorialstaats voranzutreiben. Alkalai, der im 19. Jahrhundert als Rabbi im Osmanischen Reich arbeitete, sah den Weg das Land zu besiedeln allerdings nur dann als möglich an, wenn es vor einer Masseneinwanderung bestellt und bearbeitet wird. Alkalai war einer der ersten Zionisten, die die Besiedlung, zwar vor einem religiösen Hintergrund, in einen praktischen Kontext stellten und vom rein orthodox-religiösen Gedankengut befreiten. Die Kibbuzim, die zwar die Ankunft des Messias nicht als finales Ziel deklarierten, waren in diese Sinn sehr hilfreich als eine Art Vorposten der vollständigen Besiedlung Palästinas.
Ein anderer sehr früher Denker, der die Notwendigkeit der Finanzierung der Rückkehr der Juden ins Heilige voraussah, war Rabbi Zwi Hirsch Kalischer, ein Vertreter des religiösen Zionismus. Dabei nahm er die reichen jüdischen Familien wie die Rothschilds oder die Montefiores in die Pflicht. Sie sollten es sein, die den jüdischen Siedlern den Start in Palästina durch landwirtschaftliche Ausbildung ermöglichen.
Ein Mix an unterschiedlichsten Ideologien mit demselben Ziel wurde schließlich in die Praxis umgesetzt. Unter Dr. Albert Ruppin sollte es ab 1907 soweit sein. Auf der Kinneret Farm wurden die zukünftigen Pioniere des Kibbuz Degania zu fähigen Landwirten erzogen. Der Gedanke des religiösen Rabbi Kalischer durch landwirtschiftliche Ausbildung die Kolonisation voranzutreiben wurde von sozialistischen, jüdischen Pionieren mit Unterstützung der vom Kapitalismus getragenen, zionistischen Institutionen in die Tat umgesetzt.
Auch die weitere Entwicklung war davon getragen, dass sich Kapitalismus und Sozialismus nicht unangenehm in die Quere kamen. Als sich die Kibbuzim in den Jahren nach dem Sechstagekrieg von der Landwirtschaft in Richtung Industrie und anderer Gewerbe stärker öffneten war es nicht unüblich, dass Lohnarbeiter von außerhalb zur Unterstützung eingestellt wurden. Dabei spielte die Gleichheit keine Rolle, die Lohnarbeiter aus den besetzten arabischen Gebieten wurden für die Billigarbeiten herangezogen.
Die Akzeptanz des Kapitalismus trägt wohl auch zum relativ zu anderen Kommunen und Gesellschaften langen Bestehen der Kibbuzidee bei. Anders als in sozialistischen Staaten in Osteuropa gab es Zwang und Klassenkampf nicht. Die Kibbuzim fühlten sich als sozialistische Player in einer kapitalistischen Makroökonomie ebenso wohl wie die Kibbuzniks, die außerhalb der Gemeinschaften einer Lohnarbeit nachgehen konnten wenn dies ihr Wunsch war. Unter den ideologischen Hardlinern mag dies verpönt sein, die breite Masse findet so aber bis heute ein Gleichgewicht zwischen dem Leben innerhalb einer offenen, westlichen Gesellschaft die Israel ist und dem Sozialismus für den die Kibbuzim stehen.
Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus
Während die Pioniere in den Kibbuzim für viele Linke sozialistische Helden der Arbeit waren und in Israel bis heute als Sinnbild des Neuen Menschen gesehen werden, stellen die Siedlungen für Israelkritiker ein Werkzeug des Imperialismus und Kolonialismus dar. Die Siedlungen, die oftmals mit Verteidigungsanlagen versehen waren, sollten in erster Linie der Verteidigung dienen, galten ihren Nachbarn aber auch als Ausdruck einer aggressiven Expansionspolitik. Kibbuzim waren von Anfang an mehr als Landarbeiter und Bauern. Der Schomer, der bewaffnete Bewacher, war zumindest bis zum Unabhängigkeitskrieg, als es noch keine reguläre israelische Armee gab, ebenso wichtig wie der Agrarier. Die Kibbuzniks waren nicht unbedingt gern gesehene Gäste in Palästina und mussten sich gegen feindselige Araber und Beduinen erwehren. Mit dem Muskeljudentum Nordaus hielten auch Kampfausbildung und Militarismus im Alltag vieler Juden Einzug.
Vor allem Israelkritiker sehen in den Kibbuzim die Vorposten des Kolonialismus. Die enge Verknüpfung von Palästinenseramt, Jewish Colonization Agency und den Kibbuzim lässt Vermutungen zu, dass die Besiedlung durch die Kibbuzniks eine Art Ersatz für militärisch vorangetriebenen Kolonialismus klassischen Stils bildet. Die Kibbuzim dienten dabei als eine Art militärische Stützpunkte und Kontrollstellungen sowie als Mittel zur Vertreibung der arabischen Bevölkerung Palästinas. Auch am berühmt-berüchtigten Massaker von Deir Jassim, bei dem im April 1948 eine bis heute offenbar strittige Anzahl an palästinensischen Zivilisten von israelischen Kämpfern ermordet wurden und das bis heute als eines der umstrittensten Kapitel der Staatswerdung Israels gilt, wurde von einer Einheit eines Kibbuz durchgeführt. Ebenfalls hoch war der Einfluss der Kibbuzniks auf viele umstrittene Regierungsentscheidungen in der Araberfrage vor allem in den ersten 20 Jahren des Staates Israel.
Zionisten sahen die Landnahme von Anfang an als essentiell an. Zwi Hirsch Kalischer sah nicht nur das Thema der Ausbildung, sondern auch den jüdischen Nationalismus voraus. Unter dem Eindruck des zunehmenden Nationalismus in Europa wollte er diesen Weg auch für die Juden der Diaspora eingeschlagen sehen. Das jüdische Volk sollte sich ein Beispiel an den Ungarn, den Italienern oder den Polen nehmen, die nicht davor zurückscheuten ihr Leben für die Nationwerdung zu geben. Darüber hinaus sieht auch Hirsch voraus, dass ein Auftreten der Juden als Pioniere unumgänglich sein wird. Kalischer sagt hier die zukünftige Möglichkeit der Kibbuzim als selbstständige, landwirtschaftliche Siedlungen erstaunlich genau voraus. Er sieht die Erlösung, die nur durch die Bevölkerung Palästinas, des Heiligen Landes, zwar in einem klassisch-religiösen Sinn durch die Ankunft des Messias am Jüngsten Tag, von hier an zum Nationalismus war es aber nur ein kleiner Schritt in der Denkweise.
Auch Moses Hess war ein Anhänger der Idee des jüdischen Nationalismus auf dem Grund und Boden Palästinas. In seinem Glauben an die Wiederherstellung des Jüdischen Staates beruft sich auch der Sozialist Moses Hess wie Rabbi Kalischer auf den Propheten Isaiah. Er glaubt sehr stark an die Franzosen in der Unterstützung für den Staat Israel im Nahen Osten und auch daran, dass es keinen Widerstand aus Europa geben kann wenn sich Juden Land aus der Hand des bröckelnden osmanischen Reiches herauskaufen und sich als Bindeglied zwischen West und Fernost etablieren.
Nationalismus, einst Ausdruck des Wunsches einer liberalen Bürgerschicht nach Selbstbestimmung, wurde spätestens durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zum Ausdruck von Chauvinismus. Die Rolle der Kibbuzim als Vorreiter in der Besiedlung des Landes sollte das Image der Pioniere als Helden des Zionismus prägen. Mit dem Sieg im Sechstagekrieg 1967 und der darauffolgenden Besetzung palästinensischer Gebiete nahm das Ansehen Israels im Ausland ab. Für viele linksgerichtete Israelis ist dieser Moment noch immer eine Zäsur in der Geschichte des Landes. Ab diesem Moment begann auch für die Kibbuzbewegung eine langsame Abwärtsspirale, die in den 1980ern in eine Krise münden sollte.
Resümee: Von Degania bis heute
Als die fast 30 Jahre regierende Arbeiterpartei 1977 abgewählt wurde und die rechte Likud die Regierungsgeschäfte übernahm, verlor auch die Kibbuzbewegung innerhalb des Staates an Bedeutung. Nach dem Höhenflug der 50er und 60er Jahre kam es vor allem in den 1980ern zu einem starken Rückgang des Einflusses der Kibbuzniks in Politik, Militär und Wirtschaft. Durch Spekulationen verloren die Kibbuzim auch einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens. Das Lebensgefühl der revolutionären 60er in den USA und Europa, das sehr gut zum Fremd- und Selbstbild der sozialistischen Pioniere passte, die in Gleichheit und Mäßigung einen alternativen Lebensstil zu bieten hatten, wurde vom Hedonismus der 80er mit dem Laisser Faire in Politik und Wirtschaft von Thatcher und Reagan abgelöst. Mit der Likud hielten die Gedanken von Vladimir Jabotinsky verstärkt Einzug in der Knesseth. Während der Kibbuz an Bedeutung verlor, gewannen die Siedler an, die von vielen als religiöser Nachfolger der sozialistischen Pioniere gesehen werden, an Einfluss. Der Absturz der Kibbuzim passt ins Bild der 80er Jahre, in denen der Sozialismus weltweit an Bedeutung verlor.
Die sozialistische Revolution hatte als Ideal ausgedient und mit ihr der Kibbuz als ihr weithin geachtetes Symbol. Auch in den Kibbuzim Israels waren nach 1967 Amerikanismus, Konsum und TV eingekehrt. Die Ideale, die der Kibbuz einst verkörperte, wurden von den Medien in den Hintergrund gedrängt. Zwar werden diese Ideale heute noch von vielen Bewohnern ernstgenommen, allerdings haben die Kibbuzniks viel von ihrer Vorbildwirkung, ihrem Einfluss und ihrem Glanz innerhalb der israelischen Gesellschaft verloren. Bei aller Autonomie die die Landwirtschaftskommunen genossen, sie standen doch stets in Verbindung und in Wechselwirkung mit der israelischen Gesellschaft als Ganzes. So wie die Kibbuzim Einfluss auf Staat und Gesellschaft hatten, so ist es auch umgekehrt.
Diese Wechselwirkung gilt auch für das Außenbild. Mit dem Sieg im Sechstagekrieg von 1967 wandelte sich das Bild vom Außenseiterstaat Israel mit dem sozialistischen Experiment des Kibbuz hin zum Bild des imperialistischen Pariastaates. Von der Arbeiterpartei zur Likud, vom bedrohten Außenseiterstaat zum Besetzer, von der anarchischen Landkommune zum rechten Siedler, Israel entwickelt sich in vielerlei Hinsicht parallel. Der Machtverlust der Arbeiterpartei und der Verlust des Ansehens der Linken trugen auch zum Verlust der Bedeutung der Kibbuzim bei. Israel begreift sich als einen Teil der westlichen Welt und ist ein wohlhabender Staat. Es gibt keinen Leidensdruck mehr in dieser modernen Gesellschaft, der quasi zu Solidarität und Sozialismus zwingt. Die Pioniere Israels sind nicht mehr am Land in den Kommunen zu finden, sondern in den Startups in Tel Aviv. Vielleicht ist es gerade hier in dieser kapitalistischen Szene in der hippen Stadt am Mittelmeer, in der sich der Charakterzug des Anpackens und des Mutes etwas Neues zu schaffen, den die Kibbuzniks verkörperten, bewahrt hat. Die Pioniere haben geholfen einen Staat zu schaffen der sie nun nicht mehr nötig hat.
Auch die Rolle des Schomer wird in den Zeiten der starken Armee nicht mehr benötigt. Aus den Kommunen die sich in unwirtlichem Gebiet als Fremdkörper innerhalb der bestehenden palästinensischen Gesellschaft schützen und durchsetzen musste, sind vielfach komfortable Ferienanlagen geworden. Die orthodoxen Siedler, die sich in den besetzten Gebieten breitmachten, sind für viele Beobachter ihre Nachfolger im Sinne der jüdischen Landnahme. Von der solidarischen und sozialistischen Tradition sind diese Gemeinschaften allerdings weit entfernt sind.
Was also ist geblieben vom Erbe eines Noah Gordon? Hat sich der Anarchismus durch den Erfolg der israelischen Gesellschaft, deren Wegbereiter die Kibbuzum durchaus waren, selbst entsorgt? Wer heute mit Kibbuzniks spricht, lernt Menschen kennen die den Lebensstil und die Gemeinschaft in der sie leben sehr schätzen. Natürlich haben viele der Prinzipien nicht überlebt. Während aber der dogmatische Sozialismus Osteuropas unter dem Druck des auferlegten Zwanges implodierte, existieren die flexiblen und offenen Kibbuzim noch immer. Über 150 Jahre nach Moses Hess´ Aufsatz „Rom und Jerusalem“, über 100 Jahre nach der Gründung Deganias und der Oktoberrevolution können sich innerhalb der westlich orientierten und kapitalistisch geprägten Gesellschaft Israels die Kibbuzim noch immer als alternatives Lebensmodell behaupten. Der wilde Ritt mit dem Spagat zwischen Sozialismus, Kapitalismus, Zionismus bis hin zum Wunsch ein neues Judentum zu erschaffen mag vorüber sein, die Kibbuzbewegung ist aber noch immer ein aktiver Teil der israelischen Gesellschaft.